Der Implex
vermuten, die Besitzlosen der Gegenwart seien in der Lage, anders als die Bürger vor der Französischen Revolution, ihre wirtschaftlichen Funktionen als politische Hebelpunkte zu nutzen und zunächst in soziale (»alle Räder stehen still«) und dann in politische Macht umzumünzen.
Alle diese Abschiednehmerinnen und Lebewohlsager, die von den Nichtbesitzenden, wie sie nun einmal sind, nichts mehr wissen wollen, haben dieselbe Schwäche: Sie erinnern an Leute, die, beeindruckt vom Glanz und den Freiheiten der italienischen Stadtstaaten der Renaissance, sich damals bereits den Sieg allseitig entfalteter Menschen (»Renaissancemenschen« eben) über den Feudalismus versprochen hätten, ohne zu ahnen, daß die Voraussetzungen für das, was sie da wollten, sich bis zur Französischen Revolution, den Napoleonischen Kriegen, der europäischen Industrialisierung und der revolutionären Dekolonisation der USA nicht einstellen würden. Eine aufsteigende Klasse kann sich mit ihrem Aufstieg nicht übers Maß kontingenter Erfolge und Niederlagen hinaus beeilen.
Wer aber, wenn nicht diejenigen, die an den Stellen des Produktionsprozesses wirken, wo die »unnatural separation between the enjoyment of a thing and the power of producing it« 22 entspringt, die Anna Laetitia Barbauld so schlecht gefiel, soll diese separation aufheben können? Und wieso, wenn es denn nur diese sind, die das können, soll man nicht auf sie setzen? Weil es schon Voluntarismus ist, etwas zu wollen?
Denkbar wäre doch auch, daß dafür eine breitere (nicht nur ökonomische, auch soziopolitische und informationelle) Basis erfordert ist, als ihn das geschlagene, halbfeudale, ausgeblutete und verwüstete Rußland nach dem Ersten und seine auch nicht eben vom Himmel gesegneten Bündnispartner im europäischen Osten und der Dritten Welt nach dem Zweiten Weltkrieg zu bieten hatten.
Der Kapitalismus ist erst in jüngster Zeit als Weltsystem verwirklicht – könnte es nicht sein, daß die weitestentwickelten Vorschläge, wie er abzuschaffen sei, ihn sich (samt seiner Abschaffbarkeit) in schöner prästabilierter Harmonie zwischen Sein und Sollen nie anders vorgestellt hat als eben so, wie er eben erst geworden ist?
DREI
FEMINIMA MORALIA
I.
Performative Neuroplastizität
Die Feministin Andrea Dworkin hat in ihrem an Polemiken, Zuspitzungen und Mißverständnissen reichen Leben nach männlicher Anhängerschaft nicht eben fleißig gesucht. Heterosexuelle Männer, die vielleicht noch bereit waren, ihre 1979 im Buch Pornography dargelegten Ansichten zur Pornographie zu schlucken – jene sei die Theorie zur Praxis der Vergewaltigung –, mußten sich schwertun mit der 1986 in der Abhandlung Intercourse vorgenommenen Radikalisierung und Ausweitung der Theorie auf den heterosexuellen Geschlechtsverkehr als solchen und die Festschreibung von dessen laut Dworkin irreduziblem Vergewaltigungsanteil. Nicht einmal allen heterosexuellen Frauen hat das besonders gut gefallen.
Zumindest einen beredten Explikator und Verteidiger aber fand Dworkin doch; den englischen Schriftsteller Michael Moorcock nämlich, der in ihren kontroversen Schriften dieselbe Haltung wiedererkannte, die ihn selbst dazu angeregt hatte, die wildbewegte Erzählung The Alchemist’s Question »allen Frauen im Krieg« zu widmen.
Frauen im Krieg: Das boshafte Bild beweist ein waches Auge für das kleinste denkbare Molekül eines komplexen Materials, in der Biologisches und Gesellschaftliches einander nicht wechselseitig mit Welthaltigkeit anreichern, sondern beißen.
Vieles, was im siegreichen Westen seit der scheinbaren Durchsetzung seiner Lebensweise als alternativlos umstritten ist oder bestritten wird, arbeitet mit semantischen Kampfstoffen solcher Zusammensetzung.
Denn so materialistisch sich die Aufklärung stellen- und abschnittsweise von innen angefühlt haben mag, so idealistisch war sie als öffentliche Streitform: Es sollte nach dem Willen derer, die sie erfanden und sich ihr verschrieben, zuallererst auf die richtigen Ideen ankommen, auch bei der Bestimmung des richtigen Tuns, und was nicht begründet war, sollte auch nicht geschehen. Wenn also das Naturrecht eine solche Begründung fürs von Menschen aufzurichtende und einzuhaltende Recht darstellte und sich irgendwelche sozial vorfindlichen Differenzen als naturgegeben oder naturgemäß aufweisen ließen, dann waren diese Differenzen prinzipiell rechtens – und damit hatte man eine ganze Menge Hexis am Hals, die loszuwerden die
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