Der Implex
Kleinproduzentenhafte der Avantgarde mit ihren entsprechenden Aufführungen für kleine Zirkel, mit dieser leicht trüben Weihe, und statt dessen hatten sie es mit einer fabrikmäßig erzeugten Massenkultur zu tun. Da sie den Kapitalismus sowieso schon nicht mochten, wofür es schließlich eine Menge guter Gründe gibt, von denen wir einige ja auch nur deshalb kennen, weil sie von diesen beiden und ihresgleichen so vorbildlich und punktgenau ausformuliert wurden, haben sie ihr Heimweh und ihre Angst, daß alles Wahre, Schöne, Gute, das sie von zuhause her kannten, für immer weg war, und daß sie nun dieser anderen, lärmigen Kultur ausgeliefert waren, die ja dadurch, daß sie industriell erzeugt und mittels Massenmedien, Radio usw. vertrieben wurde, schon sagte: Das ist nicht nur für dich, den einzelnen Kunstgenießer, das ist für potentiell alle – als Liebesentzug empfunden, das heißt: daß selbst die Kunsterzeuger nicht mehr direkt mit ihnen, den kritischen Intellektuellen redeten, und also verhielten sie sich, wie man sich verhält, wenn man aus dem Dorf vertrieben wird und dann auch noch hört, daß die Dorfliebste einen vergessen hat und jetzt mit allen möglichen Leuten tanzen geht. Da fingen sie an, auf das Mädchen, die Kunst in ihrer neuen Gestalt zu schimpfen, wie verhurt sie sei und verblödet und was sonst. Dem inneren Bildnis der Jugendliebe in ihrem Herzen aber, der Hochkultur selber, der Avantgarde, hielten sie lebenslang die Treue, man findet das bei Bloch, wo das Echo des Expressionismus in seinen Schriften bis zum Schluß zu hören ist, und bei Adorno als ausdauerndstes Streiten für die neue Hochkunst bis zum letzten Buch, der Ästhetischen Theorie . An dieser Lesart stimmt einiges; aber ganz geht sie nicht auf. Denn selbst die Liebe zur Avantgarde, die Zuneigung zum fordernden Werk, die Solidarität mit den genialen Kleinproduzenten hat ihre Grenze bei Leuten aus der Linie, um die es hier geht – Adorno, über die Schicksale von Dodekakophonie und (damals noch nicht so genannter) algorithmischer Musik nach dem Zweiten Weltkrieg, im Aufsatz Das Altern der neuen Musik :
»Schönbergs eigene Bedenken schützen den vorm Mißverständnis, der sich der Beliebtheit dieser Technik, die geschichtlich heute so notwendig ist wie je, nicht mehr freut als etwa der Popularität Kafkas. Jenes Verfahren besitzt sein Existenzrecht durchweg nur in der Darstellung komplexer musikalischer Inhalte, die sich sonst nicht bewältigen ließen. Davon losgelöst, entartet es zum Wahnsystem.« 268
Die um gewisse Echos auffallend unbekümmerte Verwendung des, gelinde gesagt, vorbelasteten Ausdrucks »entartet« ist bei einem so genauen Stilisten wie Adorno ein Fingerzeig. Was aber soll die zwölftönende Avantgarde sein, die nicht mehr jene Inhalte bearbeitet, die Adorno von Schönberg und Webern und seinen übrigen Komponistenidolen aus der Zeit vor der Katastrophe kannte? Ein Wahnsystem. Was sagt er also über die jungen Musiker, die er nicht mag? Ihre Kunst ist entartet, und sie sind verrückt. Genau das, mit denselben Worten also, was seine politischen, verbrecherischen Todfeinde über diejenige Kunst gesagt haben, die er mochte. Den Schlüssel zu den schmerzhaft peinlichen und jedenfalls traurigen Aussetzern bei Bloch und Adorno liefert einmal mehr die – dennoch, wie wir begründet haben, mit Vorsicht zu genießende und umsichtig zu dosierende – Wissenssoziologie: Noch die unabhängigsten, isoliertesten, verfolgtesten Denker müssen im Takt und der Melodie des historisch zu einem bestimmten Zeitpunkt Gedachten mitschwingen, weil die Gewalt, die Angst, die Verfolgung auch in der Sprache derer, die in einer gegebenen Gesellschaft die Ausgegrenzten oder in einer gegebenen historischen Situation die Bedrohten sind, ihre Spuren hinterläßt.
Nicht einmal die Feinde und potentiellen Opfer des Faschismus also konnten faschistoiden Denkgesten und Sprachmustern ganz entrinnen, sie drückten ihnen auf Jahre hinaus, bis ins Exil, ja bis in die Nachkriegszeit ihre Prägungen in den Sprachleib. Das ist nun aber gerade kein verkappter Freispruch der Nazis, etwa in dem Sinne, jene seien ebensogut wie Bloch oder Adorno irgendwie Kinder ihrer Zeit gewesen, sondern im Gegenteil eine verschärfte Anklage: Nicht einmal die Gedanken und die Formulierungen der zur unfreien Öffentlichkeit nicht länger Zugelassenen sind noch frei, wo die Unfreiheit allgemein wird.
Ein weiteres Mal gewendet aber bedeutet dies auch, daß
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