Der Implex
das Buch dabei rauskam, das ihm nach seiner Fertigstellung noch gewachsen gewesen wäre. Er hat sie alle auf die Welt gebracht und dann, am Ende, sterben sehen müssen, sogar selbst umgebracht. Das Romanende bei Dickens: ist deutlicher als sonst eine Schließung, Besiegelung einer Totgeburt. Es bleibt nichts mehr zu tun, als irgendwie zu leben, nach Cartons Tod, nach Esthers Hochzeit mit dem guten Arzt, nach Pips völliger Selbsterkenntnis über den Rand des für sein Selbst vorgesehenen sozialen Nährbodens hinaus, einer Selbsterkenntnis, die keine »höheren Ziele« mehr übrigläßt. Nur der Geschmack des letzten Satzes in Candide ist dem vergleichbar, was Dickens den Ideen antut, denen seine Helden nachgehangen sind, und mit denen sie untergehen müßten, wenn sie sie eben nicht losließen, auf daß man sich trenne: der Geist in den Himmel, das Fleisch in den Alltag. Ihrer beider unerfüllbare Liebe auf dem Theaterboden der gegenwärtigen, der bürgerlichen Gesellschaft ist das Thema der Romane, das sie nicht erschöpfen können, und das seinen Autor erschöpft hat. Höher hinaus als in Bleak House kam die bürgerliche Romankunst gar nicht allzuoft, mit Proust zur Totalität des Subjekts, mit Joyce und Flaubert zur Totalität der Sprache, mit Balzac und Dostojewski zur Totalität des Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse. Alle drei Sorten der Überbietung der Dickensschen Leistung aber sind gesellschaftlich unverdiente, individuell mit Leben und Verstand bezahlte Erfolge von Genies, in ihrer Art weder wiederholbar noch sonstwie lehrreich.
Bleak House jedoch erreicht alles, was dem Bürger als Romankünstler überhaupt zu erreichen statthaft ist – die Ironie liegt freilich darin, daß Dickens viel weniger Bürger war als die genannten Genies: Das Wahre am Bürgerlichen wird auf nachbürgerliche Temperamente warten müssen, solche wie Marx vielleicht. Nicht Orwell und nicht Zweig, nicht die Biographen und nicht die literarischen Feinde, die sich mit Dickens befaßt haben, reden irgendwo darüber, was für wichtige Beweggründe für Dickens’ Arbeit Haß und Neid auf die günstiger Geborenen waren, obwohl man Magwitch oder das Anwaltspack in Bleak House , ja selbst Fagin nicht begreift, wenn man das nicht weiß. Der einzige, der überhaupt etwas »in dieser Richtung« durchblicken läßt, ist Arno Schmidt, und der hat sich ja grundsätzlich nur mit Schriftstellern befaßt, die er für sich selbst halten konnte (das waren dann natürlich fast alle; außer Thomas Mann).
VI.
Fernsehen als Erzählproblem
Die ästhetisch-formgeschichtlichen, produktionsformalen Erben der Dickensschen Verfahrensweise, hocharbeitsteilig, tendenziell vergesellschaftet, durchindustrialisiert, findet man heute freilich nicht mehr einsam am Schreibtisch, sondern im Serienfernsehen – zum Beispiel bei »Dawson’s Creek«, einer realistisch-komödiantischen Teenager-Serie, die im Frühjahr 2003 in den USA zum letzten Mal ausgestrahlt und danach auf DVD angeboten wurde. Sie funktioniert wie David Copperfield von Dickens, erzählt nämlich, wie jener Roman den Lebensweg eines Dickens-analogen Helden, die Geschichte eines Menschen, der wie der Schöpfer der Show, Kevin Williamson, aus einer Kleinstadt nach Hollywood findet und dort schließlich seine Jugend in einer Fernsehserie wiederaufleben läßt. Früh will der jugendliche Held, dessen Pubertät die Show begleitet, Filmregisseur werden, probiert in seinem Heimstudio auch Fernsehformate aus, und so liegen lange vor dem Finale, das ihn schließlich da ankommen läßt, wo Williamson sein mußte, um sich »Dawson’s Creek« ausdenken zu können, zahlreiche Schlenker ins Selbstthematisierende nahe, ohne daß dabei, wie sonst in vergleichbaren Fällen so häufig, zwanghaftes postmodernes Augenzwinkern die Zuschauer hat verstimmen müssen. Im Vorspiel – vor der Titelsequenz samt Erkennungsmelodie und Darstellerclips – der letzten Folge der ersten Staffel kommt dieses Moment eindrucksvoll zu sich selbst: Wie in jeder Episode zuvor sitzen Dawson (James van der Beek) und seine fünfzehnjährige Sandkastenfreundin Joey (Katie Holmes) auf Dawsons Bett und schauen sich einen Film an – wir haben ihnen bis dahin schon zwölfmal dabei zugesehen, wie sie anderen dabei zusehen, wie die ein fiktives Leben bewältigen. Joey aber hat genug davon: Sie sieht es nicht mehr ein, ihr eigenes Leben zu verpassen, ständig auf ein Zeichen Dawsons zu warten, daß er endlich bereit ist, sich zu
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