Der indigoblaue Schleier
weil er hoffte, vielleicht einen Blick auf Dona Ambas unverschleiertes Gesicht werfen zu dürfen.
Aber die Hausherrin war nirgends zu sehen. Miguel tappte leise um das Haus herum, bis er vor der Veranda stand. Auch hier keine Menschenseele. Das war die Gelegenheit: Schnell zog er einen kleinen goldenen Schlüssel aus seiner Tasche und ließ ihn in das Gras unterhalb der Brüstung fallen. Dies würde ihm einen Vorwand liefern, um später zurückzukehren. Ein Taschentuch wäre es nicht wert gewesen, dafür den langen Weg auf sich zu nehmen, einen wertvolleren Gegenstand mochte er nicht opfern. Der kleine Schlüssel war ideal für den Zweck. Er hatte ihn in einer Schublade seines Sekretärs gefunden und ihn keinem Schloss im ganzen Haus zuordnen können. Er war also entbehrlich, sah aber nicht so aus, als sei er es.
Dann huschte Miguel wieder zum Hof, um diesmal auf sich aufmerksam zu machen. »He da! Gibt es denn hier keinen Hausdiener, der Dona Amba meinen Besuch ankündigen kann?«, rief er.
Anuprabha und Jyoti liefen schreiend davon und warfen vor lauter Aufregung die Waschschüssel um. Der kleine Vikram folgte ihnen, er kreischte vor Vergnügen. Makarand und Dakshesh fühlten sich ertappt, weshalb sie beide ihre arrogantesten Mienen aufsetzten und sich dem Besucher wichtigtuerisch in den Weg stellten.
»Senhor Miguel«, vernahm er plötzlich Dona Ambas Stimme, »Euer Besuch kommt ein wenig … ungelegen.«
Amba hatte das Getöse auf dem Hof gehört, woraufhin sie sofort nach draußen geeilt war, um dessen Ursache zu ergründen. Sie hatte mit Nayana und Shalini gerade Maß genommen für einige neue
cholis,
Sari-Unterblusen, die Shalini ihr anfertigen würde. In Gedanken war sie noch bei den Stoffen, die sie mit ihrer
ayah
und der Näherin unter einer Vielzahl von erlesenen Materialien ausgewählt hatte. Einmal im Jahr kam ein Tuchhändler aus der Hauptstadt und brachte ihnen ballenweise Stoffe mit, damit Dona Amba nicht der ermüdenden Auswahl von Textilien in seinem Geschäft ausgesetzt war. Die demütigende Prozedur des Maßnehmens bei einem fremden Schneider hatte sie, wie der Händler wusste, ebenfalls aus ihrem Alltag verbannt. Wahrscheinlich war die Dame schwer entstellt, mutmaßte er.
»Verzeiht mein ungehöriges Eindringen«, begrüßte Miguel die Hausherrin. »Aber am Tor erschien auch auf mein Rufen hin niemand, so dass ich mir erlaubt habe, einzutreten. Ich komme in der Hoffnung, Euch diesmal …«
»Ihr seid mir zu keinerlei Dank verpflichtet, lieber Senhor Miguel, und selbst wenn Ihr es wärt, wäre Euer Geschenk, das Ihr bei Eurem letzten Überraschungsbesuch hiergelassen habt, mehr als angemessen gewesen. Meine Dienerin hat sich übrigens sehr darüber gefreut.«
Miguel ließ sich nicht anmerken, dass ihr kleiner Seitenhieb ihn getroffen hatte. Im Gegenteil, er blieb ganz gelassen und lächelte sie sogar an. »Aber meine liebe, hochgeschätzte Dona Amba, Ihr missversteht mich. Ich komme, um Euch ein Geschäft vorzuschlagen. Wenn Ihr so gütig wärt, mir ein wenig Eurer kostbaren Zeit zu opfern … vielleicht könnten wir die Sache auch irgendwo besprechen, wo nicht Eure ganze Dienerschaft zuhören kann?«
Er hatte improvisieren müssen. Er hatte überhaupt keinen Anlass gehabt, hier unangemeldet aufzukreuzen, weder um seinen Dank ein weiteres Mal auszusprechen, noch um ihr ein Geschäft vorzuschlagen. Er hatte sie nur sehen wollen. Sehen müssen. Aber wie es schien, hatte er Dona Ambas Neugier geweckt.
»Für Geschäftliches ist mein Gemahl zuständig. Ich erwarte ihn noch vor Einsetzen des Monsuns zurück, so dass Ihr Euch dann noch einmal auf den Weg zu uns machen müsstet.«
»Wie bedauerlich. Es handelt sich nämlich um eine Angelegenheit, die keinen Aufschub duldet.« Miguel dachte fieberhaft darüber nach, was er denn um Gottes willen sagen sollte, wenn Dona Amba ihn tatsächlich anhören wollte. Außerdem musste er sie irgendwie zur Veranda lotsen – wie sonst sollte er bei seinem nächsten Besuch erklären, er habe dort einen Schlüssel verloren?
»Also schön«, hörte er sie nun sagen, »aber fasst Euch kurz. Folgt mir.« Sie ging energischen Schrittes zur Veranda, wo sie Miguel mit einer Geste aufforderte, Platz zu nehmen. Sie beherzigte nicht einmal die einfachsten Gebote der Höflichkeit, dennoch war Miguel verzückt. Diese Frau strahlte so viel Eleganz und Autorität aus, dass man ihr verzieh, wenn sie nicht einmal
por favor,
bitte, sagte. Sie bot ihm natürlich nichts
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