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Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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einmal mehr die Eingeborenen, welche Nahrungsmittel rein und welche absolut tabu waren? Beide Männer hatten sich hinterher die Finger in den Hals gesteckt.
    Ähnlich erschütternd war ihre erste Begegnung mit einer portugiesischen Dame gewesen. Sie waren über die überfüllte Hauptstraße gelaufen, als eine Frau mittleren Alters sich an ihnen vorbeidrängte. Sie schwang eine kleine Gerte, und jeder, der eine dunklere Hautfarbe als die ihre hatte und nicht sofort zur Seite sprang, wurde von ihr damit geschlagen. Was maßte sich diese Person an? Weder waren sie gemeine Taschendiebe noch Bettler oder gar Unberührbare. Sie, die einer ehrenwerten alten Familie aus hoher Kaste entstammten, durften in diesem fürchterlichen Land, das noch vor 130  Jahren ihr eigenes gewesen war, ungestraft so behandelt werden wie Lumpenpack, und das auch noch von einer Frau! Es war unglaublich. Sie hatten auf ihrer langen Reise schon vieles erlebt, aber mit einer solchen Missachtung ihrer Würde waren sie nie zuvor konfrontiert gewesen. Pradeep hatte gleich nach seinem Säbel gegriffen, aber Chandra hatte ihn rechtzeitig von einer Dummheit abbringen können. Sie waren Gäste in Goa. Sie hatten einen Passierschein, der ihnen erlaubte, drei Monate ihrem »Handel« nachzugehen. Aber bei der kleinsten Verfehlung würde man sie ebenso gnadenlos hinauswerfen, wie sie ihrerseits ihr Ziel verfolgten.
    Denn Händler waren Chandra und Pradeep keineswegs. Weil sie wussten, dass die Portugiesen jeder Art von Handel gegenüber aufgeschlossen waren, hatten sie sich als Kaufleute ausgegeben, um besagten Passierschein zu erhalten. In Wahrheit jedoch waren die beiden Brüder von Haus aus wohlhabend und absolut nicht willens, irgendeiner Art von Beschäftigung nachzugehen, die den Namen »Arbeit« verdiente. Sie hatten daheim in Maharashtra schöne Posten in der Regierungsverwaltung, die es ihnen erlaubten, fette Bestechungsgelder zu kassieren und dafür nichts weiter zu tun, als eben nichts zu tun. Man musste nur hier ein Auge zudrücken oder da eine Wache weniger postieren. Einen Arbeitsplatz, an dem ihre Anwesenheit erwünscht oder gar erforderlich gewesen wäre, hatten sie nicht. Ein- oder zweimal im Jahr hatten sie ihrem Fürsten Bericht zu erstatten, und solange der keinen Grund zur Klage fand, konnten sie weiterhin ihrer Obsession frönen: der Jagd auf Bhavani.
    Seit fünf Jahren verfolgten sie ein Phantom. Das eigentliche Ziel – den Diamanten wieder in den Besitz der Familie zurückzuholen, der er rechtmäßig gehörte – hatten sie zwar nie aus den Augen verloren, doch es war schwierig, eine Frau aufzustöbern, die so gewieft war wie ihre einstige Schwägerin. Mit jedem Jahr, das ins Land ging, wurde die Chance, sie jemals zu finden, geringer. Sie wussten schon gar nicht mehr genau, wie sie eigentlich ausgesehen hatte. Sie war eine Schönheit gewesen, und sie hatte auffällige grüne Augen gehabt. Aber Schönheit verging, und die grünen Augen – nun, hier in Goa hatten sie schon einige davon gesehen.
    Manchmal überfiel sie ein Gefühl von absoluter Sinnlosigkeit. Doch wenn sie dann von einer ihrer Reisen heimkehrten, sich von ihren Frauen das Geschwätz über die Kinder und das Gejammer über die Dienstboten anhörten, dann dauerte es nie lange, bis das Fieber sie wieder packte. Ihre Reisen waren Flucht und Jagd gleichermaßen.
    In Momenten wie diesem aber war es schwer, nicht voller Wehmut an die Heimat zu denken. Denn gerade saßen sie im Empfangsraum eines portugiesischen Herrn und ließen sich von ihrem unfähigen Dolmetscher die Worte des Portugiesen übersetzen, die er in dieser Form unmöglich geäußert haben konnte. »Bei uns ist die barbarische Sitte der Witwenverbrennung verboten«, hatte er angeblich gesagt, und Pradeep beschimpfte den Dolmetscher, weil der seiner Meinung nach die Höflichkeitsfloskeln und blumigen Umschreibungen, die man hohen Gästen gegenüber zuhauf verwendete, einfach weggelassen hatte.
    »Aber genau so hat der Sahib es gesagt, ich schwöre es!«, verteidigte der Übersetzer sich. »Ist es meine Schuld, wenn diese Leute keine Manieren haben?«
    Chandra war geneigt, dem Dolmetscher zu glauben. Ihr Gegenüber war ein ungehobelter Kerl, was man nicht nur roch – obwohl die Europäer ja alle einen strengen Geruch verströmten –, sondern auch sah. Welcher zivilisierte Mensch lief in seinem eigenen Haus in schmutzigen Stiefeln herum oder in Straßenkleidung? Wer schleppte all den Dreck und die Seuchen

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