Der indigoblaue Schleier
war, verstörte sie zutiefst. Solange es noch einen Funken von Hoffnung gegeben hatte, dass er vielleicht nur verschleppt worden war und noch lebte, hatte sie sich daran klammern können. Nun jedoch wusste sie, dass sie Waise war, und obwohl nicht allein auf der Welt, es gab ja noch Vijay und Roshni, fühlte sie sich plötzlich so einsam und verlassen wie nie zuvor.
»Dein Onkel wurde bereits in Gewahrsam genommen«, berichtete die Maharani weiter, »desgleichen deine Tante. Natürlich werden die Vorfälle von offizieller Seite noch genauestens untersucht werden, doch die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die beiden für ihre Schandtaten mit dem Leben bezahlen müssen.«
»Was ist mit meinem Bruder?«, fiel Uma ihr ins Wort.
»Dein Bruder ist wohlauf. Er ist mit einem Mädchen verlobt, das nicht nur eine sehr gute Partie ist, sondern dem er auch mit Haut und Haar verfallen zu sein scheint.« Erstmals erlaubte die Maharani sich ein Lächeln. »Wir haben ihn noch nicht über deinen Verbleib unterrichtet – er glaubt noch immer, du seiest tot. Wir fanden es klüger, wenn du selber ihm mitteilst, dass du sehr lebendig bist.«
Zweieinhalb Jahre nachdem die Geburt des Shahzada Sultan Ummid Baksh in ihrer Heimatstadt mit einer prachtvollen Parade gefeiert worden war, verstarb der kleine Enkel des Großmoguls. Ein passender Anlass, dachte Uma, auch ihre und Roshnis falsche Identitäten, die genauso lange wie das arme Königskind überlebt hatten, für immer hinter sich zu lassen. Nachdem sie nun rehabilitiert waren, konnten sie wieder ihre echten Namen annehmen, Bhavani und Nayana. Das Ende des dunklen Weltalters Kali-Yuga war nah, bald würde die Welt in das Dwapara-Yuga eintreten. Man schrieb das Jahr
1031
des Propheten Mohammed, das Jahr
1622
der Christen. Es war das Jahr null für eine verheißungsvolle Zukunft für Bhavani. Sie war siebzehn Jahre alt.
»Natürlich bist du schon sehr alt für eine wirklich exzellente Verbindung«, sagte die Maharani wenige Tage später. »Da hätten wir mit der Suche schon beginnen müssen, als du noch ein Kind warst. Dennoch habe ich einen Kandidaten gefunden, von dem ich glaube, dass er zu dir passt – und der dir gefallen dürfte.«
Die Fürstengemahlin war zu dem Schluss gekommen, dass weder Geld noch Gerechtigkeit dem armen Mädchen auf Dauer von Nutzen sein konnte. Es brauchte einen Gemahl. Es brauchte den Halt einer eigenen Familie, so wie es für jede Frau galt. Bhavani war von guter Abstammung, sah inzwischen wieder wunderschön aus und hatte sogar eine beachtliche Mitgift – in Form des Diamanten – vorzuweisen. Denn ihn für sich zu behalten kam für die Maharani nicht in Frage. Der einzige Makel, mit dem Bhavani behaftet war, war der Verlust ihrer Unschuld. Aber da gab es ja Mittel und Wege, den Bräutigam und dessen Familie zu täuschen. Also hatte sie sich auf die Suche gemacht, und sie war fündig geworden. Der junge Mann entstammte derselben Kaste von hohen Beamten wie Bhavani. Er war
26
Jahre alt, galt als gebildet und freundlich, und er war ein großer Freund körperlicher Aktivität, etwa des Reitens und Jagens. Seine Verlobte, der er seit Kindertagen versprochen war, war dem Fieber erlegen, so dass er nun wieder frei war. Dank der Fürsprache von höchster Stelle erschien seiner Familie die neue Auserwählte wie ein Geschenk des Himmels.
Als die Maharani Bhavanis Gesichtsausdruck sah, wurde sie von einer Woge des Mitleids gepackt. »Aber, aber … wer wird denn hier so unglücklich dreinschauen? Es ist doch der Traum jeder jungen Frau, mit einem guten Mann vermählt zu werden, und Arun ist der beste Bräutigam, den du dir wünschen kannst.«
Arun hieß er also, Sonne. Bhavani verbot sich eine heftige Widerrede. Sie wollte nicht undankbar erscheinen, denn hier am Hof war ihr ehrliche Anteilnahme und unschätzbare Hilfe zuteilgeworden. Dennoch zog sich ihr bei der Vorstellung, mit einem wildfremden Mann das Lager teilen zu müssen, der Magen zusammen. Im Gegensatz zu anderen jungen Bräuten wusste sie ja, was sie erwartete.
»Du kannst dir Arun sogar vorher anschauen – sofern du es unauffällig tust. Er wird demnächst an einem Turnier teilnehmen, und aus meinen Gemächern haben wir einen wunderbaren Blick auf den Innenhof des Palastes, in dem die Sieger geehrt werden. Ich bin sicher, dass er zu diesen dazugehören wird.«
Nach christlicher Zeitrechnung schrieb man den
2
. Februar
1623
, als Bhavani und Arun, durch Knoten an
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