Der indigoblaue Schleier
weil er in der Stadt etwas zu erledigen hatte.
Als Miguel gegen Mittag bei ihnen erschien, geriet Isabels Entschluss, die Verlobungsfeier abzublasen, allerdings ins Wanken. Er begrüßte sie so herzlich und sah einmal wieder so umwerfend aus mit seinem vom Ritt zerzausten Haar, dass sie sich nicht vorstellen konnte, jemals ohne ihn leben zu können.
»Nanu, wen haben wir denn da?«, fragte Miguel, als der kleine Paulo in den Flur gelaufen kam. »Das ist doch …« Sein Lächeln erstarb. Die Ähnlichkeit des Jungen mit seinem Vater war so frappierend, dass Miguel sich zu ein wenig Freundlichkeit zwingen musste. Das Kind konnte ja nichts dafür, dass es von einem solchen Scheusal gezeugt worden war.
»Senhor Miguel, wie schön, Euch zu sehen!«, kam Dona Juliana freudestrahlend auf Miguel zu und umarmte ihn. »Das ist Paulo. Er kam aus dem Waisenhaus zu uns.« Zu dem Jungen gewandt, sagte sie: »Und das ist Senhor Miguel, ein guter Freund von mir und der Senhorita Isabel. Sag artig guten Tag.«
»Guten Tag«, flüsterte der Junge eingeschüchtert. Erwachsene Männer jagten ihm immer Angst ein.
Miguel starrte das Kind an. Es war wirklich unglaublich, wie sehr es Carlos Alberto glich. Einzig die Hautfarbe war einen Hauch dunkler, das Haar schwarz und voll. Miguel hoffte, dass der Junge auch Carlos Albertos Intelligenz, nicht aber dessen Boshaftigkeit geerbt hatte. War ein schlechter Charakter eigentlich angeboren?, fragte er sich, noch immer den Jungen musternd. Oder konnte man den üblen Anlagen mit einer entsprechenden Erziehung entgegenwirken? Er bemerkte, dass der Kleine sich vor ihm und seinem forschenden Blick fürchtete und sich am Rock von Dona Juliana festklammerte. Diese streichelte ihm den dunklen Schopf und murmelte ihm ein paar beruhigende Worte zu, während sie Miguel empört ansah.
Miguel deutete die unausgesprochene Botschaft richtig. Er lächelte, reichte dem Jungen die Hand und sagte: »Guten Tag, junger Herr. Ich sehe, die Damen des Hauses hofieren Euch, wie es einem Prinzen gebührt.«
Paulo gluckste. Er verstand zwar nicht alle Wörter, die der Mann benutzte, aber es gefiel ihm, dass er mit ihm sprach wie mit einem Erwachsenen und dass er ihn als Prinzen bezeichnet hatte. Ja, das hatte er sich schon oft vorgestellt, wenn er im Schlafsaal lag und die Augen geschlossen hatte: dass er in Wahrheit kein armes Waisenkind war, sondern der Sohn eines Edelmannes, der eines Tages ein großer Held sein würde.
Als endlich Isabel zu ihnen stieß, nahm Dona Juliana das Kind bei der Hand und entfernte sich mit ihm. Die jungen Turteltauben wollten bestimmt unter sich bleiben. Vor der Verlobungsfeier hatten sie gewiss noch allerhand zu besprechen und zu erledigen, da störten eine ältere Dame und ein kleiner Junge nur.
Isabel führte Miguel in den »kleinen Salon«, der zu ihrer Zimmerflucht in der Wohnung gehörte. Dort stand bereits eine Schale mit Gebäck bereit, der Tisch war mit Kaffeegeschirr eingedeckt.
»Setz dich«, forderte Isabel ihren Besucher auf. »Das Mädchen bringt uns gleich frisch aufgebrühten Kaffee.«
Die beiden saßen einander schräg gegenüber. Keiner wagte, zuerst das Wort zu ergreifen. Als das Dienstmädchen ihre Tassen gefüllt und den Raum wieder verlassen hatte, begannen beide gleichzeitig.
»Isabel, ich muss …«
»Miguel, ich will …«
Beide lachten, und das anfängliche Unbehagen, das zwischen ihnen gestanden hatte, löste sich auf.
»Du zuerst«, sagte Miguel.
»Na schön.« Isabel räusperte sich. »Also, ich habe nachgedacht. Und bin zu folgendem Ergebnis gekommen: Wir können uns nicht verloben. Wir müssen diese Feier absagen.«
»Sie soll schon in der kommenden Woche stattfinden«, fiel Miguel nur zu sagen ein, als ob Isabel dies nicht genau gewusst hätte.
»Genau das liefert uns doch den perfekten Vorwand: Einer von uns beiden muss plötzlich sehr schwer erkranken. Etwas Besseres ist mir nicht eingefallen. Wenn ich dir einen Korb gebe, dann wahre ich dabei zwar mein Gesicht, bringe dich jedoch bei der Kirche in Schwierigkeiten. Wenn mich aber eine ominöse Krankheit daran hindert, zu meiner eigenen Verlobung zu kommen, dann kann dir niemand einen Strick daraus drehen.«
»Wieso willst du dich denn nicht mit mir verloben?«, fragte Miguel unnötigerweise, denn die Antwort lag auf der Hand. Als er ihren traurigen Blick sah, schämte er sich. »Es tut mir leid.«
»Ja, Miguel, mir auch.«
»Und dann? Was hast du vor?«
»Wenn ich langsam auf dem Weg
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