Der indigoblaue Schleier
dich, und ich glaube, dass auch du mich lieben könntest, wenn du es dir nur erlaubtest. Dein Ehemann, nun ja, allmählich glaube ich gar nicht mehr an seine Existenz. Ich weiß nicht, wovor du auf der Flucht bist, und du musst es mir jetzt auch nicht sagen. Aber eines Tages solltest du dich mir anvertrauen. Ich möchte wissen, warum du immer den Schleier trägst, warum du diese Abgeschiedenheit gewählt hast und warum du die Öffentlichkeit so sehr scheust. Ich möchte wissen, was dich quält, genauso wie ich wissen will, was dich erfreut, was dir gefällt, worüber du lachst und was dir Befriedigung verschafft. Ich möchte wissen, was du am liebsten isst, damit ich dich jeden Tag mit Naschwerk verwöhnen kann. Ich will deine Vorlieben in Kunst, Musik und Literatur kennenlernen, damit ich eines Tages unser gemeinsames Heim mit entsprechenden Gemälden, Instrumenten und Büchern füllen kann. Ich will deine Lieblingsblumen kennen, um sie dir jeden Tag zu pflücken. Ich will …«
»Und ich will das alles nicht.« Amba wollte sich vor allem nicht einlullen lassen von schönen Worten. Es würde ja doch nicht so werden, wie er es sich ausmalte. Was wusste er denn schon vom Leben? Hatte er je so gelitten, wie sie gelitten hatte? Hatte er jemals Entbehrungen und Verletzungen ertragen müssen? Und hatte er eigentlich eine Vorstellung davon, was er ihr wie auch der freundlichen Isabel antat?
Andererseits: Was wusste sie selbst denn vom Leben? Führte sie ein Leben, das diesen Namen verdiente? Es mussten doch auch Freude und Glück dazugehören, Leidenschaft und Liebe, damit es ein erfülltes Leben war. Ach, schalt sie sich, nun fiel sie doch auf die schillernden Visionen herein, die Miguel ihr vor Augen geführt hatte und die wie ein Luftflimmern über einem ausgetrockneten Acker waren: Bei näherem Betrachten lösten sie sich in nichts auf.
Nun, wovon sie jedoch wirklich etwas verstand, war Überleben. Und das würde sie tun, indem sie abermals die Flucht antrat.
Ohne ihn.
Wortlos stand sie auf und ließ ihn allein auf der Veranda zurück.
[home]
59
I sabel hatte ihre Krankheit gründlich satt. Es war anstrengend gewesen, so lange das Bett zu hüten, ein schlimmes Unwohlsein zu simulieren und die erstickende Fürsorge Dona Julianas zu ertragen, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Ein paarmal war sie kurz davor gewesen, Dona Juliana und den Hausdienern die Wahrheit zu sagen, um sich wenigstens daheim halbwegs normal benehmen zu können. Doch im letzten Augenblick hatte sie sich immer gerade noch beherrschen können. Es war das Beste für sie selber sowie für Miguels Sicherheit, wenn sie diese Posse durchhielt.
Nun stand sie am Hafenkai, gestützt auf Dona Juliana, die ihrerseits eher der Stütze bedurft hätte als Isabel, und beobachtete, wie ihre große Reisekiste in den Frachtraum gehievt wurde. Eine kleinere Truhe, in der sich alles befand, was sie während der Passage brauchte, hatte ein Mann bereits in ihre Kabine gebracht. Zu ihrer Verabschiedung waren alle gekommen, die ihr hier in Goa ans Herz gewachsen waren, darunter neben den Eheleuten Queiroz natürlich Miguel, Maria mit ihrem Säugling, der kleine Paulo sowie ein ganzer Tross indischer Kinder, um die sie sich gekümmert hatte. Vor lauter Rührung fiel es ihr nicht schwer, ihre Erkrankung glaubhaft zu spielen: Sie hatte Tränen in den Augen, hielt den Rücken gebeugt, schwitzte und sah ganz und gar elend aus.
Miguel hatte die Geistesgegenwart, ihr von irgendwoher einen Schemel zu besorgen, auf dem sie sich niederlassen konnte. »Danke«, hauchte sie. Hätte sie sich nicht sofort hingesetzt, wäre sie womöglich noch in Ohnmacht gefallen. Der Geruch nach faulendem Fisch sowie ihr zu eng geschnürtes Mieder und die dem Klima vollkommen unangemessene Kleidung brachten sie noch um. Warum hatte sie bloß auf Dona Juliana gehört, die ihr ein Samtkleid aufgeschwatzt hatte, weil es für den Anlass ihrer Meinung nach das passendste war?
»Eure Erkrankung macht mir wirklich große Sorgen. Ihr werdet von Tag zu Tag hinfälliger. Und jetzt noch die beschwerliche Reise! Ihr solltet nicht fahren«, lag die ältere Dame ihr in den Ohren. Sie hatten das Thema bereits etliche Male erörtert, doch Isabel hatte darauf bestanden, einen Spezialisten in Portugal aufsuchen zu müssen. Da die Queiroz sich für sie verantwortlich fühlten, ließen sie sie aber nicht allein die große Fahrt antreten, sondern gaben ihr ein Dienstmädchen mit. »Sie ist zwar kein nennenswerter
Weitere Kostenlose Bücher