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Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Schutz, aber wenigstens ist so der Schicklichkeit Genüge getan«, hatten sie gemeint.
    Isabel war froh, eine fast gleichaltrige junge Frau als Begleiterin zu haben. Vielleicht war sie ja als Partnerin für Kartenspiele zu gebrauchen. Oder sie konnte ihr unterwegs noch ein paar Lektionen in Konkani erteilen. Wobei, dachte Isabel traurig, sie diese Sprache wohl ihr Lebtag nicht mehr sprechen würde – sie hatte nicht vor, jemals nach Goa zurückzukehren. Der Gedanke erfüllte sie mit einer Wehmut, die sie nicht für möglich gehalten hätte – es war ja nicht so, als würde sie ihre Heimat oder auch nur ein Land, in dem sie viele Jahre gelebt hatte, verlassen. Zugleich sah sie der Reise wie auch der Ankunft in Portugal mit Freude entgegen. Immerhin, dachte sie, würde sie in Lissabon die Bekanntschaft der Mendonças machen, von denen Miguel so viel erzählt hatte. Mit ihnen würde sie Erfahrungen und Beobachtungen aus Indien teilen können, würde sie über Miguel reden und über seine Eigenheiten lachen können, würde sie das Kopfwackeln der Inder imitieren und ein paar landestypische Gerichte nachkochen können. Sie hatte einen großen Beutel mit Pfeffer und Kurkuma, mit getrocknetem Ingwer, Zimt und Nelken, mit Kardamom und Sternanis dabei, außerdem konservierte Mangos, Cajú-Nüsse und Kokosscheibchen sowie eine Flasche Feni. Es würde ein Festmahl werden. Und nur Menschen, die Indien kannten und liebten, würden es als solches zu schätzen wissen.
    Isabel bezweifelte, dass ihre eigene Familie aufgeschlossen genug war für solch intensive Geschmackserlebnisse. Vor ihrem geistigen Auge sah sie bereits die vor Ekel verzogenen Gesichter ihrer Schwestern, das geheuchelte Interesse ihres Vaters und die strenge Miene ihrer Mutter, die sagen würde: »Aber Kind, so etwas musstest du monatelang essen? Kein Wunder, dass es dir so schlecht geht.« Isabel schmunzelte bei der Vorstellung.
    »Sieh an, sie kann wieder lächeln!«, begeisterte sich Senhor Afonso und klopfte ihr so herzhaft auf den Rücken, dass es ihr den Atem verschlug.
    Lange hielt ihr Lächeln nicht an. Denn die Kinder aus dem Waisenhaus gruppierten sich nun im Halbkreis und stimmten, mit Maria Nunes als Dirigentin, eine Volksweise an, bei der Isabel die Tränen kamen. Diesmal konnte sie sie nicht länger zurückhalten. Es war ein hübsches, leicht melancholisches Lied, auf Konkani vorgetragen, und man verstand es, auch ohne die Worte zu kennen. Die Melodie erzählte von den Palmen und dem Meer, von der Sonne und dem Regen, von Menschen und von Tieren, die sich in diesem paradiesischen Fleckchen Erde in schönster Harmonie miteinander befanden. Isabel fand es ergreifender als jedes andere Lied, das sie je gehört hatte. Vielleicht lag es auch nur an den hellen, klaren Stimmen der Kinder oder an deren ernsten Mienen. Sie wollten vor ihrer »Tante« Maria und bei diesem wichtigen Anlass unbedingt alles richtig machen. Als Isabel zu weinen begann, blickten einige von ihnen sehr betrübt drein.
    Isabel konnte nicht länger an sich halten. Sie schluchzte nun richtiggehend, ihr ganzer Oberkörper schüttelte sich, während sie ihr Gesicht in ihren Handflächen barg. Die meisten Leute, die sich zu ihrer Verabschiedung eingefunden hatten, sahen verlegen zu Boden.
    »Isabel de Matos, die Kinder kriegen es mit der Angst«, flüsterte Miguel in ihr Ohr. »Und wir Erwachsenen eigentlich auch.«
    Noch immer bebte Isabels Rücken, doch als sie ihr tränenüberströmtes Gesicht hob, lag darin wieder ein etwas froherer Ausdruck. Sie schniefte und rieb sich die Augen, und kaum merklich gingen die Schluchzer in glucksendes Kichern über. Sie war eindeutig mit den Nerven am Ende, dachte sie, ja, sie musste wirklich dringend den berühmten Nervenarzt in Lissabon aufsuchen. Bei diesem Gedanken lachte sie laut auf, und die Umstehenden waren sich stillschweigend darüber einig, dass eine Abreise wohl doch das Beste für die sensible junge Dame sei. Das Mitleid, das einige Leute für Miguel empfunden hatten, weil seine Verlobung mit einer so vortrefflichen Person geplatzt war, schlug bei manchen, vor allem bei Männern, in eine Art gönnerhaften Neids um: Der junge Ribeiro Cruz war noch einmal glimpflich davongekommen, dass ihm eine Ehe mit der hysterisch veranlagten Dame vorerst erspart blieb.
    Irgendwann signalisierte ein Glockenschlag, dass es nun an der Zeit für Isabel war, sich von allen zu verabschieden und an Bord zu gehen. Es gab ein großes Geherze und Geweine, eine

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