Der indigoblaue Schleier
habe er die halbe Nacht wachgelegen und gegrübelt.
»Ich kann nicht, Carlos Alberto. Deine Idee in allen Ehren, aber sie hat diverse Mängel. Grundsätzlich verdienen die scheinheiligen Heuchler es ja nicht besser, als dass man ihnen das Knöchelchen des kleinen Fingers eines indischen Malaria-Toten hinhält, damit sie es anbeten. Aber für die aufrichtigen Gläubigen täte es mir leid. Das allein ist aber nicht meine Hauptsorge. Viel bedenklicher finde ich die Vorstellung, wie viele Mitwisser wir hätten. Überleg doch mal: Wir müssten einen Bestatter einweihen sowie einen Baumfäller, außerdem einen Präparator, der Knochen oder Holzstücke alt aussehen lassen kann. Weiterhin bräuchten wir einen Goldschmied, der uns Gefäße nach europäischem Vorbild fertigen könnte. Schließlich werden die Reliquien nicht lose transportiert. Dann müssten wir die Diener bestechen, die meine Truhe ausgepackt haben und genau wissen, dass darin keine Reliquien waren. Das sind zu viele Leute, Carlos Alberto – und jeder Einzelne davon könnte uns, wenn er uns schon nicht verrät, erpressen.«
Carlos Alberto, der voll freudiger Erregung aufgewacht war und gespannt auf die Meinung Miguels gewartet hatte, zog ein langes Gesicht. Es waren in der Tat gute Argumente, die sein Freund da vorbrachte. Aber ließ sich nicht für alles eine Lösung finden? Er war bitter enttäuscht über diese Abfuhr. Noch vor wenigen Stunden hatte er geglaubt, eine brillante Eingebung gehabt zu haben, und nun wurde diese vor seinen Augen zerpflückt und zunichtegemacht. Na schön, wenn Miguel nicht mitmachen wollte, würde er es eben allein wagen. Das war ohnehin besser, als die Gewinne mit jemandem teilen zu müssen. Und Gewinne würde es geben, hohe Gewinne.
Carlos Alberto rechnete im Stillen aus, wie viel er würde investieren müssen. Ein alter Knochen, den man mit etwas Säure und Schmutz schön alt aussehen lassen konnte; ein Silberkästchen nach antiquierter, mittelalterlicher Mode; eine von einem Papst aus vergangenen Zeiten unterzeichnete Urkunde – all das würde er sich für wenig Geld beschaffen können. Nur hatte er nicht einmal diese geringfügige Summe.
Während er sich einen Umhang über die zerknitterte Kleidung legte, in der er geschlafen hatte, sah Miguel aus den Augenwinkeln, wie es in seinem Freund rumorte. Er ahnte, was als Nächstes kommen würde. Das Mienenspiel Carlos Albertos war allzu leicht zu durchschauen: Er würde ihn um ein Darlehen bitten.
Miguel warf einen Blick auf die dünne, mit Stroh gefüllte Matratze auf dem Boden. Gastfreundschaft gehörte nicht eben zu den Tugenden seines Freundes – er hätte im umgekehrten Fall dem Freund das Bett angeboten, erst recht, wenn er ihn um einen Gefallen hätte bitten wollen. Er streckte sich, um seine krummgelegenen Glieder wieder einzurenken, und sah Carlos Alberto an, der gerade etwas sagen wollte.
»Die Antwort«, kam Miguel der Frage zuvor, »lautet nein.«
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7
D ie Frauen und Mädchen peitschten, als ginge es um ihr Leben. Immer und immer wieder schwangen sie die Bambusstöcke, in einem gleichmäßigen Takt und über Stunden hinweg. Dieses Peitschen verlangte ihnen alle Kraft ab, zumal es bei einer Lufttemperatur von etwa vierzig Grad zu geschehen hatte und die Lauge einen abscheulichen Geruch verströmte. Doch dann kam der ersehnte Befehl des Aufsehers: Ihr könnt aufhören. Die Lauge war endlich klar geworden, der blaue Brei hatte sich auf dem Boden der Küpe abgesetzt.
Die Gewinnung von Indigo war eine schwere, schmutzige Arbeit für alle Beteiligten. Da waren die Männer, die aufs Feld zogen, um die Stauden der Indigopflanze mit dem Buschmesser zu schlagen, und dann diejenigen, die den Ertrag bündelten und zu den Bambusbaracken trugen. Es gab zwei Ernten im Jahr, und zu diesen Zeiten mussten die Männer von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf den Feldern schuften. Auch der Aufseher hatte es nicht leicht. Waren die Stauden erst zur Baracke gebracht worden, war er dafür verantwortlich, dass sie in die Gärungsküpen – in die Erde gemauerte Gruben – geschafft und mit Wasser bedeckt wurden. Dort blieben sie, bis sie anfingen zu gären.
Zunächst bildeten sich kleine Bläschen an den Stengeln und Blättern der Stauden. Diese lösten sich dann von der Pflanze und stiegen an die Oberfläche, und zwar immer schneller und heftiger, bis die ganze Lauge brodelte. Die ganze Prozedur dauerte etwa zwölf bis fünfzehn Stunden, und in dieser Zeit musste der
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