Der indigoblaue Schleier
reisen – solange es nur weit genug entfernt von ihrem Dorf war – und eine neue Identität annehmen. Oder sie konnte das Geld dem Tempel spenden und das Einzige tun, was Ambas Meinung nach ihrer demütigenden Existenz noch den Hauch von Ehre verlieh: sich töten. Bei einer jüngeren Frau, die sich vielleicht allein durchschlagen konnte, hätte Amba zu einer anderen Lösung geraten. Aber eine betagte Frau wie Savita hatte außerhalb der Dorfgemeinschaft keine Chance. Sie würde krank werden und ohne Hilfe vor sich hin siechen. Amba verstand nicht, warum die Frau nicht den Stolz besaß, diesem Elend durch einen freiwilligen Selbstmord vorzubeugen.
»Ja, das hat er tatsächlich beschlossen«, richtete sie sich in einem Ton an den Vertreter des
panchayat,
der ihre eigenen Zweifel an dieser Entscheidung hervorhob. »Aber Ihr wisst ja, dass es nicht mehr als ein Ratschlag sein kann. Ihr müsst selber entscheiden.«
Danach verließ den
panchayat
-Vertreter offenbar der Mut, weitere Unschlüssigkeiten im Dorfrat vorzutragen. Der
zamindar
war ja ganz offensichtlich nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, wenn er solche absurden »Ratschläge«, die im Dorf als Gesetz betrachtet wurden, erteilte. Wenn er es sich recht überlegte, war der
zamindar
schon vor drei Jahren recht eigenwillig gewesen, um nicht zu sagen altersstarrsinnig. Damals hatte der neue Grundbesitzer anlässlich des Erwerbs weitläufiger Ländereien am Tungabhadra-Fluss seine bisher einzige Reise in ihr Dorf unternommen. Danach hatte er sich nie wieder blicken lassen, sondern seine junge Frau gesandt – allein schon Beweis genug dafür, dass der Mann ein wenig verwirrt war. Der
zamindar
musste etwa in seinem Alter sein, er selber stand jedoch mit Mitte sechzig noch in Saft und Kraft. Erst vor kurzem hatte er seine dreizehnjährige Großnichte geehelicht, nachdem seine erste Frau den Anstand besessen hatte, vor ihm zu sterben.
Nachdem der Dorfälteste so wortkarg geworden war und plötzlich etwas geistesabwesend gewirkt hatte, entließ Amba den Mann mit einer Reihe von guten Wünschen und Segnungen. Kaum hatte er das Haus verlassen, atmete sie tief durch und tupfte sich vorsichtig den Schweiß von der Stirn. Es war dunkel geworden, doch die Hitze war weiterhin quälend. Amba wedelte sich mit einem Pfauenfächer Luft zu und goss sich einen Schluck des Limonenwassers ein, das eine Bedienstete in einem Krug bereitgestellt hatte. Sie mochte niemanden um sich haben, am allerwenigsten eine Dienerin, die später jedem im Dorf in allen Einzelheiten erzählen würde, wie ihre Herrin aussah, wie groß ihr Nasendiamant war, wie hell ihre Hautfarbe, wie sorgfältig aufgetragen der rote
sindur
auf ihrer Stirn.
Amba hoffte, dass Nayana bald aus dem Dorf zurückkäme, wohin sie sie geschickt hatte, um nach den Bedürftigen zu sehen – und um die Arbeiterin Manasi, eine der Frauen in der Schlagküpe, nach Details des Ablaufs auf der Plantage zu befragen. Sie hatte das Bedürfnis, sich jemandem mitzuteilen, und ihre
ayah
war die einzige Person, der sie bedingungslos vertraute. Manchmal sehnte sie sich nach einem Gesprächspartner, der mit mehr Intelligenz gesegnet war als Nayana, doch sie hatte die Erfahrung machen müssen, dass ein scharfer Verstand auch oft mit Gefühlskälte einherging. Da war ihr die gute alte Nayana mit ihrem großen Herzen um ein Vielfaches lieber.
Doch als sie später am Abend mit Nayana beim Abendessen saß und ein einfaches
kari
mit klumpigem Reis von Bananenblättern aufnahm, da heulte ihre
ayah
ihr die Ohren voll: von der schamlosen Witwe Savita, die sich, halbnackt und beinahe kahl geschoren, von den Kindern verspotten ließ; von dem Unglück der jungen Indu, die bereits die vierte Fehlgeburt erlitten hatte; von den Machenschaften des feisten Kiran, der sich mit allen Nachbarn zerstritten hatte und dem man nachsagte, er habe die Hühner des einen vergiftet; und von den Frechheiten der schönen Anita, die glaubte, sich aufgrund ihres guten Aussehens Älteren gegenüber weniger ehrerbietig zeigen zu müssen. Amba stand nicht der Sinn nach solchen Banalitäten. Immerhin aber wusste sie nun, dass es keinen Grund zur Sorge gab: Alles war wie eh und je.
Morgen würden sie guten Gewissens abreisen können.
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8
I m Oktober war der Monsun vorüber. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel herab und ließ die Pflanzen in schönster Pracht wachsen. Die Blätter der Mango- und der Banyanbäume, der Betel- und der
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