Der indigoblaue Schleier
andere räudige Hund saß in der Nähe der Menschen und hoffte darauf, dass diese etwas für ihn fallen ließen.
Es war eine Szenerie, die dank der bunten Gewänder der Frauen und des weichen Lichts der Morgensonne malerisch wirkte, beinahe verträumt. Doch Miguel begriff durchaus, wie beschwerlich der Alltag dieser Menschen war, ihr Leben kaum mehr als ein Spielball der Naturgewalten. Ein einziger starker Sturm konnte ihre Hütten hinfortwehen, eine Überschwemmung zur Unzeit konnte den Hungertod bedeuten. Aber das war schließlich überall auf der Welt so, oder nicht? In Portugal starb die Landbevölkerung, wenn nach einer langen Dürre eine Feuersbrunst über sie hinwegrollte, und in den Bergen erfroren die Leute, wenn ein außergewöhnlich starker Frost die Region heimsuchte.
Kein Wunder, dass hier wie dort die Religiosität der Menschen so unerschütterlich war, dachte Miguel, als er einen Marienschrein passierte, der auf den ersten Blick verdächtig hinduistisch aussah. Die Muttergottes hatte die Züge einer Hindu-Göttin, ihr blaues Gewand sah aus wie ein Sari. Die kleine Statue stand in einer winzigen weißen Steinnische, hinter der vergitterten Öffnung brannten Kerzen. Um den Hals der Jungfrau hatte jemand einen Kranz aus Ringelblumen gelegt. Es amüsierte Miguel, dass die Inder den ihnen auferzwungenen Glauben auf diese Weise ausübten. Der Gott der Europäer ließ sich anscheinend mühelos in ihr unüberschaubares Götteruniversum eingliedern.
Er ließ die letzten Hütten des Dorfs hinter sich. Ein paar Kinder rannten ihm nach und riefen ihm fröhlich ein paar Worte hinterher, die wohl portugiesisch sein sollten. Auf dem Land sprachen die Menschen weiterhin ihren Dialekt, Konkani, denn wo der Kontakt zu den Eroberern fehlte, da bestand schließlich keine Notwendigkeit, Portugiesisch zu lernen. Nur die Kirchenlieder, die würden sie wohl in der offiziellen Sprache singen können. Miguel warf den Kindern ein paar Münzen zu und erfreute sich noch an ihrem Lachen und Rufen, als er sie längst hinter sich gelassen hatte.
Dass er sich der Stadt näherte, merkte Miguel nicht allein daran, dass die Straße zusehends belebter wurde, sondern auch an den zahlreicher werdenden Ständen rechts und links der Straße. Trotz der frühen Stunde waren die Händler bereits emsig dabei, ihre Ware auszulegen, zu drapieren und abzustauben. An allen Buden und Ständen sah man Kinder, die mit einem feinen Federwedel über die Dinge fuhren, die ihre Eltern feilboten: Lederne Sandalen, einfache Baumwollstoffe, Messingschmuck, beschnitzte Holzschemel, tönerne Töpfe und Haushaltsgerät aller Art wurden da angeboten. Zwar lag jetzt, nach dem Regen, nicht mehr auf allem die feine, pudrige Schmutzschicht, doch die Prozedur des Staubwedelns schien zu einem festgelegten Ritual zu gehören, dem die Straßenhändler tagaus, tagein gehorchten.
Es waren einfache Dinge des täglichen Lebens, die man hier erwerben konnte. Die exklusiveren Geschäfte, die, in denen die Portugiesen und die wohlhabenderen Inder einkauften, befanden sich im Stadtzentrum. Es gab eine Gasse, in der die Juweliere ansässig waren, und eine andere, in der die Möbeltischler arbeiteten, eine Straße für die Tuchhändler und eine für die Delikatessenhändler, die zu fein für den Markt waren. Bei ihnen fand man vom Kakao aus Südamerika über den Süßwein aus Madeira bis hin zu spanischem Schinken alles, was der verwöhnte Gaumen begehrte. Miguel hatte einem besonders gut sortierten dieser Feinkosthändler schon ein paarmal einen Besuch abgestattet, um sich mit Leckereien einzudecken, die nicht nach Kumin, Nelken oder Ingwer schmeckten. Heute jedoch führte ihn sein Weg direkt in die Gasse der Juweliere und Goldschmiede.
Er hatte bei seinem letzten Aufenthalt in der Stadt einen Laden entdeckt, dessen Auslage seine Neugier geweckt, den er aber aus Zeitmangel nicht besucht hatte. Es schien sich um ein Geschäft zu handeln, in dem mit allem gehandelt wurde, was schön und kostbar war. Nicht nur Geschmeide und Juwelen gab es dort, sondern auch fein ziselierte Silberschüsseln, edelsteinbesetzte Kämme und sogar eine mit Blattgold belegte Sänfte. Der Laden führte ebenfalls Porzellan, und genau das war es, was Miguel sich nun ansehen wollte.
Nachdem die Reparaturen an seinem Haus nun allmählich weitergingen und es im Innern wieder leidlich wohnlich war, hatte er eine Bestandsaufnahme des Inventars gemacht und festgestellt, dass vieles der Erneuerung oder
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