Der indigoblaue Schleier
war sicher hier unten. Die Stille, das sagte sie sich immer wieder, war nicht unheimlich, sondern im Gegenteil ein Zeichen dafür, dass alles in bester Ordnung war. Entschlossen setzte sie ihren Weg fort und verdrängte jeden Gedanken an die Gefahren, die ihr hier drohten. Ein Einsturz des Tunnels, ein Schlangennest, ein Mangel an Luftzufuhr? Bloß nicht daran denken! Sie zwang sich, sich den Zweck des unterirdischen Gangs vor Augen zu halten. Er würde ihr vielleicht eines Tages das Leben retten.
Als sie endlich am anderen Ende angelangt war, krabbelte sie vorsichtig hinaus und sog gierig die frische Luft ein, die sie im Freien empfing. Sie stieg aus der kleinen Höhle, eigentlich mehr ein Hohlraum zwischen drei großen Felsen, und zwängte sich durch das Gestrüpp, das diesen Hohlraum verbarg. Es war seit ihrer letzten Inspektion deutlich dichter geworden. Wunderbar. Das bedeutete, dass sich niemand ihrer Höhle genähert hatte.
Sie schaute sich um, doch außer Bäumen, Farnen und Buschwerk, vom Mond silbern beleuchtet, war nichts zu sehen. Natürlich nicht. Es handelte sich um einen Wald, in den kaum je ein Mensch seinen Fuß setzte. Die Region war ohnehin nur sehr dünn besiedelt, und die Leute hatten weder Zeit noch Lust, sich in dieser Wildnis herumzutreiben. Auch Jagdgesellschaften verirrten sich niemals hierher. Sie bevorzugten die Wälder in den Ghats, in denen die Wahrscheinlichkeit, einen Tiger zu erlegen, deutlich höher war.
Beruhigt trat Amba den Rückweg an, der ihr viel kürzer erschien als der Hinweg. Dennoch empfand sie ein Gefühl großer Erleichterung, als sie endlich die Stufen erreichte, die zurück in die Geheimkammer führten. Sie schloss die Bodenklappe, legte den Teppich darüber, öffnete die Tür, huschte in ihr Schlafzimmer und schob das Gemälde wieder vor die Wandöffnung. Dann ließ sie sich mit einem tiefen Seufzer auf ein Kissen fallen.
Im Haus war kein Laut zu hören. Amba hatte schon befürchtet, während ihres kurzen Ausflugs könne sich irgendetwas ereignet haben, das ihre Anwesenheit erforderlich machte, aber das war offenbar nicht der Fall. Allerdings beunruhigte es sie, dass auch von Nayana nichts zu hören war. Sie nahm den Rubin aus ihrem Dekolleté, versteckte ihn inmitten der Gewürzmischung in ihrem
paan daan
und verließ ihr Zimmer, um nach Nayana zu sehen.
»Nayana?«, rief sie vor der Tür zur Kammer ihrer
ayah.
»Nayana, bist du wach? Geht es dir nicht gut?«
Kein einziges Geräusch war zu vernehmen. Amba klopfte noch einmal, bevor sie sich entschloss, einzutreten. Die schlimmsten Vorahnungen überfielen sie. Vielleicht hatte Nayana der Schlag getroffen, so wie es im vergangenen Winter der Frau des Dorfschmieds ergangen war, die seitdem gelähmt war und gefüttert werden musste. Oder war Nayana gestürzt und lag nun ohnmächtig auf dem Boden? Zahllose Schreckensvisionen malte Amba sich innerhalb eines kurzen Augenblicks aus, eine furchtbarer als die andere. Und für jedes Unglück, das Nayana getroffen haben mochte, war allein sie, Amba, verantwortlich.
Doch mit dem Anblick, der sie dann erwartete, hatte sie nicht gerechnet. Nayana lag seitlich auf ihrer Matte, zusammengerollt wie ein schutzbedürftiges kleines Kind, und schlief selig. Ihr Brustkorb hob sich in regelmäßigen Abständen, ab und zu waren kleine Schnauber zu hören. Nayanas inzwischen beinahe weißes Haar, das ihr bis zu den Hüften reichte, war wirr um ihren Kopf ausgebreitet. Ein kleines Lächeln lag auf ihren Lippen.
Amba hockte sich zu ihrer
ayah
und streichelte ihr sanft über die Stirn. Alt war sie geworden, ihre geliebte Nayana. Aber alle Irrungen und Wirrungen des Lebens hatten ihr nicht die Unschuld rauben können. Die Tragödien, die sie mit Amba gemeinsam durchleiden musste, hatten Nayanas freundlichem Gemüt nichts anhaben können, die gemeinsam erlebten Demütigungen hatten keinen Schatten auf Nayanas reine Seele werfen können. Es war zu rührend, wie sie da lag, ihr tiefer Schlaf der beste Beweis dafür, dass ihr kindliches Urvertrauen unangetastet war.
Amba schmunzelte bei dem Gedanken, dass sich über die Jahre kaum merklich die Rollen vertauscht hatten. Nun war sie diejenige, die nicht nur für das Wohlergehen Nayanas und der anderen Dienstboten verantwortlich war, sondern ihnen auch mütterliche Gefühle entgegenbrachte. Die tiefen Falten in Nayanas Haut, die eingefallenen, runzligen Lippen und das weiße Haar änderten nichts daran, dass Amba sie betrachtete, als sei sie ihr
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