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Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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dass es dort, verborgen unter einem zerschlissenen Teppich, eine Klappe im Boden gab. Darunter führten zehn in den festen Lehm gehauene Stufen steil in den Tunnel.
    Der Tunnel selber war schmal und niedrig. Selbst Amba, die sehr klein und zart war, konnte sich darin nur geduckt fortbewegen. Er war dunkel und sogar in der Trockenzeit feucht, und es roch darin nach Moder. Die Bauarbeiten hatten aufgrund des geheimen Charakters dieses Tunnels schnell ausgeführt werden müssen, für eine aufwendigere Gestaltung war keine Zeit geblieben. Und wofür auch? Er erfüllte seinen Zweck. Länger als nötig würde Amba sich darin ohnehin nicht aufhalten. In den Nischen, die seitlich in die Tunnelwände geschlagen worden waren, hatte sie alles bereitgestellt, was sie bei einer Flucht benötigen würde. Dort lagen Kerzen und ein Feuerstein genauso wie ein fertig geschnürtes Bündel mit Kleidung und Decken. Auch eine kleine Kiste mit konservierten Lebensmitteln – eingelegte Mangos, gesalzene Cajú-Nüsse, getrocknete
papadam
-Fladen – stand dort bereit. In regelmäßigen Abständen vergewisserte Amba sich, ob all diese Dinge sich noch in einem gebrauchstüchtigen Zustand befanden und nicht etwa, trotz sorgfältigster Verpackung, von Schimmel oder Ungeziefer befallen waren.
    In einer weiteren Nische, die sich von den anderen nur dadurch unterschied, dass sie sich auf Bodenhöhe befand und von ein paar wie zufällig dorthin gerollten Steinen verdeckt wurde, bewahrte Amba ihr Vermögen auf. Manchmal konnte sie selber kaum glauben, dass dieses unscheinbare Säckchen, das sie in der Nische versteckt hatte, einen so großen Schatz barg. Denn in dem braunen Leinenbeutel befanden sich Edelsteine, Perlen und goldene Geschmeide, die ihr überall auf der Welt ein sorgenfreies Leben ermöglichen würden. Im Gegensatz zu Grundeigentum, Möbeln mit wertvollen Intarsien oder etwa ihrer kostbaren Sitar hatten die Juwelen den unschätzbaren Vorteil, dass sie leicht zu transportieren waren und ihr so die Flucht finanzieren würden.
    Ein paar Stücke hatte sie bereits verkaufen und dabei einen erheblichen Verlust hinnehmen müssen. Überall in Indien gab es Männer wie Rujul, die ein untrügliches Gespür dafür besaßen, wer es dringend nötig hatte, seine Juwelen zu Geld machen zu müssen. Die verbleibenden Teile jedoch stellten noch immer einen hohen Wert dar. Sie waren aus einem kostbaren Säbel herausgelöst worden, einem Hochzeitsgeschenk. Ach, wie lange jener glückliche Tag zurücklag! Und was hatte das Schicksal aus ihr gemacht? Wo war das Mädchen von einst geblieben? Wann war ihr das helle Lachen abhandengekommen, wann ihre unbeschwerte Art, die Männer mit einem einzigen Blick aus ihren funkelnden, kholumrandeten Augen in ihren Bann zu ziehen? Es schien ihr eine Ewigkeit her zu sein, dass sie allein durch das Klimpern mit ihren Fußkettchen einen Mann um den Verstand bringen konnte oder durch ihre zu einem Schmollen verzogenen Lippen jeden Wunsch erfüllt bekam.
    Nach Jahren in
purdah,
hinter dem Schleier, und selbstgewählter Abgeschiedenheit hatte sie die Kunst der Verführung verlernt. Bei dem Leben, das sie führte, hätte sie ebenso gut die scheußlichen Brandnarben Chitranis haben können – es hätte nicht den geringsten Unterschied gemacht. Manchmal fühlte Amba sich wie eine alte Frau, die seufzend der fernen Tage gedachte, da sie noch zu becircen wusste. Und dabei war sie gerade 26  Jahre alt.
    Ah, genug der trübsinnigen Gedanken! Verärgert über sich selbst, stieß Amba mit dem nackten Fuß einen Tausendfüßler beiseite, der über den Boden ihres Schlafzimmers kroch. Was machten ihre Dienstboten eigentlich den ganzen Tag? Konnten sie nicht einmal das Haus so gut ausfegen, dass man nicht immerzu über Krabbeltiere oder hereingewehte Blätter stolperte?
    »Anuprabha! Jyoti!«
    Die beiden Mädchen kamen herbeigeeilt und setzten diensteifrige Mienen auf. »Ja, Ambadevi?«
    »Da, seht nur«, sagte Amba und deutete auf das Insekt. »Ich dulde diese Tiere nicht in meinem Schlafzimmer. Es ist außerdem gefährlich. Wollt ihr, dass mir im Schlaf irgendetwas ins Ohr krabbelt, ich anschließend taub werde, mich dann vollends mein Glück verlässt, ich verarme und euch auf die Straße setzen muss? Wollt ihr das? Na also. Fegt diesen Raum gründlich aus – und danach den Rest des Hauses ebenfalls.«
    Die beiden huschten eingeschüchtert davon, um die kurzen Reisigbesen zu holen und dem Befehl Folge zu leisten, während Amba

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