Der indigoblaue Schleier
großes Glück erwiesen, und wenn es nach Anuprabha gegangen wäre, hätte sie auf immer in ihren Diensten stehen können. Nun ja, vielleicht nicht ewig. So schrecklich die Männer auch waren, so spannend waren sie doch. In letzter Zeit beobachtete sie sich immer öfter dabei, dass sie Gefallen an ihren muskulösen Körpern fand und an ihren tiefen Stimmen. Und es schmeichelte ihr, wenn Makarand ihr den Hof machte oder der Kokos-Zapfer ihr bewundernde Blicke zuwarf. Allerdings würde sie sich niemals dazu herablassen, mit ihnen anzubändeln. Niemals! In einer kurzen Aufwallung von vorbeugender Empörung zog sie energisch an Ambadevis Haarsträhne, die sie gerade zwischen den öligen Fingern massierte.
»Autsch! Pass doch auf!«, beschwerte Amba sich, die durch das hektische Gezupfe an ihrem Haar aus den Gedanken gerissen wurde. Gerade hatte sie sich überlegt, wer noch als Bräutigam für Anuprabha in Frage käme und an welchen Burschen aus dem Dorf Jyoti wohl Gefallen finden könnte. Denn deren schlechte Erfahrungen mit der Ehe schlossen ja nicht aus, dass sie es nicht noch einmal versuchte und vielleicht ihr Glück fand. Das Mädchen war noch so jung!
»Du bist heute nicht bei der Sache«, schalt sie Anuprabha. »Lass es gut sein. Du kannst mir noch schnell einen Zopf flechten, und dann benötige ich dich für heute nicht mehr.«
»Sehr wohl, Ambadevi.«
Als das Mädchen endlich fertig war und sie allein ließ, nahm Amba ihr
paan daan
und holte den Rubin daraus hervor. Sie polierte ihn mit einem Zipfel ihres Saris und hielt den Stein gegen das Licht, das durchs Fenster hereinfiel. Es war ein absolut makelloser Stein, frei von jeglichen Einschlüssen oder Unreinheiten. Er würde ihr unter anderen Umständen mindestens ein halbes
lakh
einbringen, während Rujul ihr höchstens ein Drittel dieser Summe auszahlen würde. Es war ein Jammer. Wie lange musste sie diese Farce noch aufrechterhalten? Lange, gestand sie sich ein. Denn sie hatte Pflichten und Verantwortung auf sich geladen, indem sie all diese gestrandeten Menschen aufgenommen hatte. Sie musste das Spiel, das sie selber begonnen und dessen Regeln sie aufgestellt hatte, weiterspielen, bis für alle gesorgt war. Anuprabha und Jyoti mussten einen guten Gemahl finden. Makarand sollte sie zu einem Kaufmann in die Lehre geben, denn er zeigte ein außergewöhnliches kaufmännisches Talent. Aber wie würde sie mit Shalini und ihrem kleinen Sohn Vikram verfahren? Bei ihr war es nicht so leicht, einen Ehemann zu finden, denn ihr Sohn entsprang einer Vergewaltigung, und das würde Unglück über den Mann bringen, der Shalini allein vielleicht nehmen würde. Sollte sie selber, Amba, den kleinen Vikram adoptieren und Shalini den Weg freimachen für eine Zukunft, die vielversprechender war als die, die Amba ihr als Näherin bieten konnte? Aber dann blieben immer noch Nayana, Chitrani die Köchin sowie Dakshesh der Gärtner. Was sollte mit ihnen passieren? Ihrem Schicksal überlassen konnte Amba sie nicht. Genauso wenig jedoch konnte sie sie alle mitnehmen, wenn sie sich zu einem erneuten Aufbruch entschloss. Amba war in die Falle ihrer eigenen Gutmütigkeit gelaufen, und sie fragte sich, ob ihr das in ihrem nächsten Leben wirklich weiterhelfen würde. In diesem Leben, so viel stand fest, kamen unabhängige und skrupellose Menschen deutlich weiter.
Ganz ähnlichen Gedanken hing Dona Assunção nach. War es wirklich richtig, ihre Söhne ihrem Schicksal in Goa zu überlassen? Delfina würde auch nach der Hochzeit bei ihr bleiben, um sie brauchte sie sich also vorerst keine Gedanken zu machen. In Europa würde sich schon ein geeigneter Ehemann finden lassen, da war die Auswahl schließlich deutlich größer als in Goa. Delfina war hübsch, klug und würde eine stattliche Mitgift erhalten, so dass sie unter den besten Kandidaten würde auswählen können. Dass der schmucke Miguel Ribeiro Cruz sich nicht für ihre Tochter interessierte, empfand Dona Assunção als enttäuschend, sie ließ sich davon jedoch nicht entmutigen. Aber Sidónio und Álvaro? Waren die beiden wirklich reif genug, um auch ohne sie, die sie sich bisher um alles Wesentliche gekümmert hatte, zurechtzukommen? Dona Assunção bezweifelte es. Sie wusste jedoch auch, dass man der Jugend ihre Chance geben musste. Wenn sie sich nicht erproben durften, ihre Kräfte nicht messen konnten, würden sich die Jungen nie zu verantwortungsvollen Männern entwickeln. Sie seufzte und schob ihre Zweifel beiseite. Im
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