Der Insulaner
manche Narren glauben ihm.« Nachdenklich starrte er in die Flammen. »Die Wanderschaft bringt Unruhe mit sich. Der Alltagstrott ist unterbrochen worden, und die Menschen lassen sich leichter beeindrucken und lassen sich von neuartigen Ideen anstecken, über die sie sonst nur lachen würden. Das nutzt Gasam aus. Eines muss man anerkennen: Er hat ein feines Gespür für die Fehler und die Leichtgläubigkeit der Männer. Er weiß, was er sagen muss, um ihre Furcht oder ihren Ehrgeiz zu wecken. Er entdeckt ihre geheimen Schwächen, das in ihnen schlummernde Böse und wendet es zu seinen Gunsten an.«
Hael nickte. »Das dachte ich mir. Er ist nicht einfach bloß verrückt. Er hat ein Ziel. Aber welches? Wenn er das Vertrauen der Männer gewinnen will, warum läuft er dann in den Sumpf?«
»Ich fürchte, wir werden es früher erfahren als uns lieb ist«, meinte Tata Mal, »und die Antwort wird uns sicher nicht behagen.«
Der Rest der Wanderung erwies sich als so unterhaltsam, dass keiner der jungen Männer ihr Ende herbeisehnte. Jeder Tag war aufregend und erlebnisreich, und sie lernten Menschen und Gebiete kennen, die ihnen bisher fremd gewesen waren. Die meisten Shasinn waren noch Kinder gewesen, als ihr Volk das letzte Mal nach Süden zog. Abends lagerten sie an Flüssen und beobachteten die Fiederfische, die bei Einbruch der Dämmerung erschienen und über den Gewässern schwebten, um sich plötzlich in die Tiefe zu stürzen und mit einer zappelnden Beute zwischen den scharfen Zähnen wieder aufzutauchen.
Die Frauen dagegen sehnten sich danach, das Ziel zu erreichen, Dörfer zu errichten und endlich wieder ein geregeltes Leben zu führen. Auf ihnen lastete die Sorge für die Kinder und die Alten. Daher teilten sie die Freude der Männer über die lange Wanderschaft nicht. Wenn die jungen Krieger zu übermütig wurden, machten die Frauen ihrem Unmut darüber laut und bissig Luft.
Aber am zweiunddreißigsten Tag der Wanderschaft erreichten die Shasinn ihr Ziel. Die älteren Leute jubelten beim Anblick der Weidegründe und stimmten Freudengesänge an. Die Kaggas wurden zusammengetrieben und alles Volk versammelte sich, während die Ältesten die Gebiete der einzelnen Dörfer bestimmten.
Während der Vorbereitungen schlenderte Hael über die Weidefläche, auf der die Herde graste. Das Gras reichte ihm bis an die Hüfte, und bei jedem Schritt stoben winzige Tiere vor ihm davon. Jetzt lag das Gebirge im Norden, und er blickte zu den flachen Hügeln hinüber, die am Horizont zu hohen Bergen wurden. Das Land war fruchtbar und wies an einigen Stellen sogar kleine Sümpfe auf. Hael wusste, dass sich die Ebene mehrere Tagesmärsche nach Osten und Westen erstreckte, um dann urplötzlich an steilen Klippen zu enden, die über einem schmalen Sandstrand aufragten. Im Süden trafen die beiden Küstenstreifen an einer Stelle zusammen, die von den Seeleuten als das ›Kap der Verzweiflung‹ bezeichnet wurde. Bei den Shasinn hatte der Ort keinen Namen, da sie der öden Küste keinerlei Beachtung schenkten. Inmitten dieser Überlegungen sah Hael Gasam zum ersten Mal seit dem Aufbruch aus dem alten Lager wieder.
Sofort musste er an Luos Worte denken, denn Gasam hatte seinen Schild schwarz angemalt. Für jeden, der täglich die bunten Farben und Muster der Shasinnschilde vor Augen hatte, wirkte das Schwarz wie ein Schock. Hael fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Wenn es überhaupt etwas bedeutete. Vielleicht wollte Gasam sich auch von den anderen Kriegern rein äußerlich abheben. In diesem Fall hatte er vollen Erfolg damit.
Haels Stiefbruder hatte sich zu einem eindrucksvollen jungen Mann entwickelt. Er war einen halben Kopf größer als die meisten Krieger und überragte sogar Hael um ein Stück. Seine bronzefarbene Haut war dunkler geworden, und die hellblauen Augen fielen dadurch noch mehr auf als sonst. Er trug keinen Schmuck und keine Körperbemalung mehr, und sein muskulöser Körper wirkte dadurch noch beeindruckender. Gasam stand breitbeinig und selbstbewusst vor Hael und sah ihn mit ernster, undurchdringlicher Miene an.
»Ich wünsche dir einen guten Tag, Hael«, sagte er. Auch seine Stimme klang verändert. Nach dem Stimmbruch hatte sie schon tief geklungen, aber nun betonte er jedes Wort so, als sei es von ungeheurer Bedeutung. Wahrscheinlich war das Borlins Verdienst.
»Das wünsche ich dir auch«, antwortete Hael vorsichtig. »Mir gefällt es hier ausgesprochen gut. Glaubst du, dass wir uns schnell einleben
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