Der italienische Geliebte (German Edition)
gesagt, dass sie England wegen der schmerzhaften Erinnerungen verlassen musste, die sie mit dem Land verbanden. Beides war die Wahrheit gewesen. Dennoch fragte sie sich jetzt zum ersten Mal, ob sie richtig gehandelt hatte oder nicht doch besser mit den anderen Engländern aus Italien abgereist wäre.
Nach dem Unfall, nachdem sie aus den schwärzesten Tiefen von Schmerz und Depression langsam wieder ans Licht gekommen war, war nichts geblieben als Leere. Sie hatte weder geweint noch gelacht. Nichts hatte sie berührt. Gleich, was sie getan hatte – ob sie sich von der Welt zurückzog oder verzweifelt Hektik und Zerstreuung suchte –, das Grau in ihr war nicht gewichen. Sie hatte es für möglich gehalten, dass sie nie wieder etwas empfinden würde. Sie hatte gewusst, so wie man eben Fakten weiß, dass sie Freddie liebte. Sie hatte auch gewusst, dass sie an Max und Ray und ihren anderen engsten Freunden hing. Aber sie hatte diese Liebe nicht empfunden – davon gewusst, aber nichts gefühlt. Dennoch war hier, in Italien, etwas in ihr wieder lebendig geworden.
Sie setzte sich aufs Sofa und zündete sich eine Zigarette an. Guido war gegangen, aber etwas von ihm war zurückgeblieben, ein Gefühl. Sie strich mit der flachen Hand über die Armlehne, auf der seine Hand gelegen hatte. Ich glaube nicht, dass ich es schaffen würde, mich einfach herauszuhalten , hatte er gesagt. Darin lag eine Warnung. Zeit zu verschwinden. Sie würde nicht sein Leben, das Maddalenas und Luciellas, durcheinanderbringen. Sie hatte ihre Lektion gelernt.
Aber wohin sollte sie gehen, was sollte sie tun? Sie schreckte zurück vor der Vorstellung, noch einmal neu anfangen zu müssen, wieder allein, sich auf die zermürbende Suche nach einer Bleibe und nach Arbeit zu begeben.
Sie griff nach Faustina Zanettis Brief und öffnete ihn. Faustina schrieb sachlich, aber nicht unfreundlich. Für ein zusätzliches Paar Hände gebe es in der Villa immer etwas zu tun, Tessa sei selbstverständlich herzlich willkommen, wenn sie bereit sei, mit anzupacken. Im Krieg würden die Lebensmittel knapp werden, man müsse also umso stärker auf Selbstversorgung bauen. Aber Tessa könne, wenn ihr das lieber sei als landwirtschaftliche Arbeit, auch in der Schule oder der Klinik aushelfen. Dafür bot ihr Faustina Kost und Logis.
Mit Italiens Kriegseintritt hatte sich alles geändert. Guido hatte recht, sie war in Florenz nicht mehr sicher. Sie musste fort aus der Stadt, auf dem Land untertauchen, denn wenn sie das nicht tat, gefährdete sie nicht nur sich selbst, sondern auch andere. Und wenn sie wirklich ins Chianti ging, um in der Villa Zanetti unterzuschlüpfen, musste sie Freddie Bescheid geben. Aber Briefe konnten geöffnet und gelesen werden und wenn ihre Nationalität bekannt wurde, würde man sie, wie Guido gesagt hatte, vielleicht der Spionage beschuldigen. Sie musste sehr, sehr vorsichtig sein.
Zwölf Tage später besetzten italienische Truppen Menton. An diesem Abend schrieb Tessa an Faustina, um ihr mitzuteilen, dass sie ihr Angebot annehme.
Das nächste Mal begegnete Freddie Jack Ransome im Dezember 1940, auf dem Höhepunkt des Londoner Blitz, im Dorchester.
Sie saßen zu fünft am Tisch: Sie selbst und Angus Corstophine, Ray, Susan und Julian. Freddie trug den Granatschmuck ihrer Mutter, das rote Feuer ein schöner Gegensatz zu ihrem schwarzen Abendkleid. An einem Ecktisch auf der anderen Seite des Restaurants amüsierte sich laut und mit viel Gelächter und gelegentlichem Applaus eine große Gesellschaft.
Susan erzählte gerade von ihrer Begegnung mit der Pianistin Myra Hess auf der Treppe des Funkhauses, als von der Gesellschaft gegenüber ein mehrstimmiger lauter Ruf ertönte. »Jack!«
Ray brummte: »Guter Gott, man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr. Wenn sie doch endlich mal die Klappe halten würden.«
Freddie sah sich nach dem Mann um, der das Restaurant betreten hatte. Es war Jack Ransome. Er sah anders aus – er war in Uniform und wirkte weit ordentlicher, gepflegter und gesünder als vor anderthalb Jahren, als sie ihn zuletzt gesehen hatte. Jack, dachte sie – Jack, der sie auf diese albtraumhafte Flucht durch die Berge geschleppt hatte. Jack war in London.
Angus, der ihren Blick bemerkte, fragte: »Kennst du ihn?«
»Jack Ransome? Flüchtig, ja. Du?«
»Ich war mit seinem älteren Bruder zusammen auf der Schule.«
Freddie wandte sich wieder Susan zu. »Hatte sie ein tolles
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