Der italienische Geliebte (German Edition)
sie fest. »Dann geh doch nach England zurück«, sagte er leise.
»Das kann ich nicht«, erwiderte sie. »Ich kann nicht, Guido.«
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Dann sagte sie unvermittelt: »Wenn ich heute zurückdenke, wird mir klar, was für eine merkwürdige Situation das damals war. Meine Mutter und deine Mutter. Meine Mutter hat deine Mutter besucht. Sie haben zusammen zu Abend gegessen, die Frau deines Vaters und seine Geliebte. Glaubst du nicht, dass das schlimm war für deine Mutter? Es muss schlimm gewesen sein.«
»Vielleicht hat sie es nicht gewusst.«
»Wie denn? Sogar wir haben es gewusst. Du selbst hast es mir erzählt, weißt du das nicht mehr? Du kamst von der Universität zurück und eines Tages hast du mir mitgeteilt, dass meine Mutter und dein Vater eine Affäre haben. Eigentlich hätte ich es selbst merken müssen.«
»Vielleicht hätte ich den Mund halten sollen. Du warst ja kaum mehr als ein Kind.«
Ich war alt genug, dachte sie. Wenn sie auf ihre Kindheit zurückblickte, erkannte sie Unstimmigkeiten, die sie irritierten. Sie hatten so viel Freiheit genossen, so leichten Zugang zu Kunst und Schönheit, und waren doch gleichzeitig viel zu naher Berührung mit den Leidenschaften und Bosheiten von Erwachsenenbeziehungen ausgesetzt gewesen. Sie hatte Liebe gesehen, ohne sie zu verstehen, sie hatte erlebt, wie ihr Vater und ihre Mutter einander verletzt hatten und hatte es für etwas ganz Normales gehalten. Diese Erfahrungen hatten sie geprägt, das erkannte sie jetzt.
Am zehnten Mai überfielen Hitlers Truppen Belgien, die Niederlande und Nordfrankreich. In Florenz klebten faschistische Gruppen Plakate an die Hausmauern, die den Duce aufforderten, Frankreich und Großbritannien den Krieg zu erklären. In dem Modegeschäft, in dem Tessa arbeitete, drehten sich die Gespräche um den so gut wie gewonnenen Krieg, die bevorstehende Kapitulation Frankreichs und die unvermeidliche Niederlage Großbritanniens.
Manche Brunnen und Standbilder der Stadt waren mit dickem Schutzmaterial umkleidet worden; andere wurden in einem Betonbunker in den Boboli-Gärten untergebracht. Gemälde wurden aus Kirchen und Museen entfernt und in Villen der Umgebung in Sicherheit gebracht. In Sackleinwand gehüllt reisten Botticelli-Göttinnen Seite an Seite mit Caravaggio-Bravi über holprige Landstraßen, um in Keller und Verliese zu wandern, eine Kunstdiaspora.
Die wenigen verbliebenen Engländer packten ihre Koffer und beeilten sich, die letzten Züge zur Grenze zu erreichen. Tessa schrieb einen Brief an Freddie und brachte ihn zum Bahnhof. Dort bat sie eine Engländerin, die auf ihren Zug wartete, ihn bei ihrer Ankunft in England für sie aufzugeben. Ein schriller Pfiff, eine Dampfwolke, und Tessa sah zu, wie der Zug aus dem Bahnhof hinausfuhr und verschwand.
Am zehnten Juni, als der französische Widerstand gegen die Nazi-Truppen bröckelte und die Briten begannen, ihre Soldaten von den Kanalhäfen aus zu evakuieren, trat Mussolini aufseiten Deutschlands in den Krieg ein. Aber von Kriegsbegeisterung bemerkte Tessa, wenn sie von der Arbeit nach Hause ging, kaum etwas. Im Gegenteil, auf den Straßen und Plätzen war es ruhiger als gewöhnlich, die Cafés waren halb leer, Hitze und Entsetzen hingen wie eine finstere Wolke über der Stadt.
In ihrem Zimmer setzte sie sich ans Fenster und blickte hinaus in die blauschwarzen Schatten, die sich in der Gasse sammelten. Ein so jämmerliches Ende eines so jämmerlichen Jahrzehnts, dachte sie. Mussolinis Opportunismus und Hitlers Machtgier und Gewalt waren vom ängstlichen Zaudern der anderen westlichen Mächte noch gefördert worden. Und wem galt nun ihre Treue – die Treue einer Frau, die mit gefälschten Papieren unter falschem Namen lebte? Den Menschen, die sie liebte. Aber sie war jetzt eine feindliche Ausländerin in einem Land, das mit Großbritannien im Krieg lag. Mussolinis Kriegserklärung hatte sie in große Gefahr gebracht.
Plötzlich sah sie Guido durch die Gasse kommen. Einen Moment beobachtete sie ihn, seinen ausholenden, elastischen Gang und sein entschlossenes Gesicht, dann ging sie nach unten, um ihn ins Haus zu lassen.
Er wartete, bis sie in der Wohnung waren, bevor er sprach. »Ich reise morgen ab«, sagte er. »Ich muss auf die Offiziersschule in Modena.«
Tessa, die gerade Wein einschenken wollte, hielt inne. »Wie lange weißt du das schon?«
»Nicht lange.«
»Und wie lange
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