Der italienische Geliebte (German Edition)
versammelten Familien Lebwohl sagen.
Es war nicht schwer zu erraten gewesen, dass ihre Mutter und Domenico ihre heimliche Beziehung entdeckt hatten. Deshalb hatte ihre Mutter sie und Freddie nach England geschickt. In jenem letzten italienischen Sommer waren sie und Guido, einzig mit sich und ihrer Liebe beschäftigt, zu sorglos gewesen. Jeden Tag kannten sie nur ein Bestreben: miteinander allein zu sein. Fünf Minuten zusammen, den wachsamen Blicken von Müttern und Aufpassern entronnen, waren eine Kostbarkeit. Eine halbe Stunde war Seligkeit. Bei Picknicks und Familienausflügen stahlen sie sich davon, um in einer versteckten Talmulde oder im Schatten einer bröckelnden etruskischen Mauer Zärtlichkeiten zu tauschen.
Das Asthma ihrer Mutter war zu der Zeit bereits chronisch geworden, ihr Kampf um jeden Atemzug unübersehbar, deshalb hatte Tessa keinen Widerspruch erhoben. Und ohnehin hätte sie es nicht über sich gebracht, Freddie die Reise nach England allein antreten zu lassen. Beim Abschied von Italien fühlte sie sich grauenvoll leer und entwurzelt, weggerissen von allem, was ihr etwas bedeutete. Die Schule, nichts als Nebel, Regen und fallendes Laub, war ihr verhasst. Sie hasste es, wie ein Kind behandelt zu werden, hatte nichts mit den anderen Mädchen gemein, und jede Nacht, mit fünf Mädchen im selben Zimmer, weinte sie heimlich um Guido.
Also ging sie nach London. Und sehnte sich weiter nach Guido. Mit Raymond Leavington fing sie zum Teil deshalb eine Affäre an, weil sie hoffte, es würde ihr helfen, Guido zu vergessen. Aber auch weil Rays Liebenswürdigkeit, seine Lebensfreude und seine Großzügigkeit ihr guttaten.
Nach Raymond kam André, dem sie in Paris bei einem Fototermin zum ersten Mal begegnete. André war sehr reich, gut aussehend und amüsant. Seine Jacht lag in Cannes und sein Rennwagen stand in Le Mans. Zu ihrem neunzehnten Geburtstag hatte er ihr den kleinen roten MG geschenkt. Sie waren beide viel beschäftigt, und André war verheiratet, darum mussten sie diskret sein. Ihre Liebesbeziehung dauerte, mit Unterbrechungen, anderthalb Jahre.
Tessa hatte viel Sinn für Diskretion. Sie hasste Klatsch und Tratscherei. Sie wusste, dass andere über sie redeten – sollten sie, es berührte sie nicht –, sie selbst sprach nie mit anderen über ihre Liebesgeschichten, nicht einmal mit Freddie. Das waren Privatsachen, die niemanden etwas angingen. Sollten sich die Neugierigen ruhig die Köpfe zerbrechen.
Andere lösten André nach der Trennung ab. Max Fischer hatte sie vor einem Jahr kennengelernt. Er war in Berlin ein gefeierter Fotograf gewesen, bis 1933 die Nazis die Macht ergriffen hatten. Er war Jude und hatte aus seiner Abneigung gegen das neue Regime kein Hehl gemacht. Schließlich musste er Deutschland verlassen, wenn er nicht Gefängnishaft oder Schlimmeres riskieren wollte. Max wurde sehr schnell Tessas bevorzugter Fotograf. Er war intelligent und unterhaltsam, in vieler Hinsicht der ideale Liebhaber; aufmerksam, phantasievoll und ein ganz klein wenig distanziert.
Aber Max war auch, wie Tessa entdeckte, ein von Grund auf schwermütiger Mensch. Manchmal trank er zu viel – das taten viele Männer, aber Max schloss sich in seiner Wohnung ein, um zu trinken, und kam erst Tage später bleich und zittrig wieder ans Licht. Hinter Max’ Zynismus verbarg sich eine tiefe Desillusionierung, und Tessa musste einsehen, dass sie hier vor einer Situation stand, der sie nicht gewachsen war. Sie spürte eine Verzweiflung in ihm, zu der sie nicht durchdringen konnte. Aber sie blieben Freunde und gingen um alter Zeiten willen hin und wieder noch miteinander ins Bett.
Zwei Monate, nachdem sie die Geschichte mit Max beendet hatte, traf sie Julian Lawrence, blendend aussehend und absolut hinreißend, dennoch ein Missgriff, wie Tessa sich eingestehen musste. Er bestand darauf, ihr lächerlich verschwenderische Geschenke zu machen, von denen sie wusste, dass er sie sich nicht leisten konnte, und die sie ihm jedes Mal zurückgab. Viel zu bald sprach er von Verlobung, Heirat und Kindern. Als sie ihm einen Korb gab, versuchte er nicht einmal, ihre Gründe zu verstehen, und überhäufte sie mit tränenreichen Vorwürfen. Zu jung und zu ernsthaft, hatte er an dem Abend, als Tessa Schluss machte, eine unglaubliche Szene hingelegt.
Ein Mann wie Julian Lawrence würde sie wahrscheinlich für eiskalt und berechnend halten, wenn sie ihm offen sagte, dass ihre Karriere ihr
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