Der italienische Geliebte (German Edition)
vorsichtig. Und wenn das alles hier vorbei ist, geh zurück zu deiner Frau und deinem Kind und werde glücklich.
14
Am Charing-Cross-Bahnhof waren Menschenmengen, die Schlangen vor den Fahrkartenschaltern reichten bis zur Straße hinaus. Rebecca ging zu Fuß zum Embankment, um sich das Umsteigen zu sparen. Auch im U-Bahnhof war es voll, auf dem Bahnsteig der District Line standen die Leute so dicht gedrängt, dass sie zwei Züge davonfahren lassen musste, ehe es ihr gelang, sich in den dritten hineinzuzwängen. Sie schaute auf ihre Uhr: Es war viertel vor zwei. Die Besuchszeiten in dem Pflegeheim, in dem ihre Mutter seit zwei Wochen ihr Leben fristete, waren mehr als knauserig – an den Wochenenden von drei bis vier Uhr nachmittags und abends eine halbe Stunde. Bis zum Abend konnte sie nicht bleiben; das wäre zu riskant bei der Unzuverlässigkeit der Züge. Sie wurde auf dem Hof gebraucht, und Meriel hatte bei ihrem letzten Telefongespräch gesagt, sie pumpten ihre Mutter dermaßen mit Schmerzmitteln voll, dass sie kaum wahrnehme, ob man da sei oder nicht.
Die großen Ereignisse der letzten Zeit hatte Rebecca nur wie aus weiter Ferne erlebt. Freude und Erleichterung über die Landung der Alliierten in der Normandie waren von der Erkrankung ihrer Mutter überschattet gewesen. Vor vier Wochen war Mrs. Fainlight zu Hause zusammengebrochen und sofort ins Krankenhaus gebracht worden. Die Röntgenbilder hatten Tumore in den Rippen und der linken Hüfte gezeigt. Der Hüftgelenksknochen war brüchig und würde ihr Gewicht bald nicht mehr tragen können. Nach zwei Wochen war ihre Mutter vom Ortskrankenhaus in ein Pflegeheim in South Kensington verlegt worden, wo sie bleiben würde, wie der Spezialist Rebecca und Meriel mitgeteilt hatte, bis ihr Zustand sich stabilisiert hatte. Und dann?, hatte Rebecca gefragt. Offensichtlich verlegen über ihre Direktheit, hatte er den Kopf hin und her gewiegt. Nun, sie müssten verstehen, dass der Zustand ihrer Mutter unweigerlich zum Tod führen werde. Man werde alles tun, um die Schmerzen zu lindern, aber das Fortschreiten des Krebses könne man nicht aufhalten. Wenn Mrs. Fainlight nach Hause zurückkehren wolle, werde sie nicht mehr für sich selbst sorgen können. Es müssten also entsprechende Maßnahmen ergriffen werden.
Sie hatten beide geweint, als sie gegangen waren. Später war Rebecca aufgefallen, dass sie abwechselnd geweint hatten, Meriel auf dem Weg zur Bushaltestelle und sie – Rebecca – auf der Fahrt. Als müsste jetzt, da nur noch sie beide übrig waren, wenigstens eine immer fähig sein, nüchtern zu handeln, in diesem Fall den richtigen Bus anzuhalten und die Fahrscheine zu verlangen.
Sie war zu früh dran und setzte sich in ein kleines Café in der Nähe vom Holland Park, um eine Tasse Tee zu trinken. Das Lokal war verqualmt, und der Tee schmeckte wie Spülwasser, aber Rebecca trank ihn trotzdem. Am Nebentisch saß eine müde aussehende Frau und schminkte sich, indem sie Wangen und Stirn mit einer schmuddelig aussehenden Puderquaste bearbeitete, mit der sie immer wieder energisch die kläglichen Reste aus den Rändern der Dose schrubbte. Die Puderdose wanderte zurück in die Handtasche, und ein Rougetöpfchen wurde herausgeholt, auch dieses fast leer. Dann Wimperntusche und ein Lippenstiftstummel. Rebecca hätte am liebsten zum Bleistift gegriffen, um den Vorgang in einer Zeichnung festzuhalten, die Puderrubbelei, das feste Zusammenpressen und Freigeben der Lippen, den stirnrunzelnden Blick in den kleinen Taschenspiegel. Als die Frau fertig war, stand sie auf, strich ihren Rock über den Hüften glatt und stakte auf hohen Absätzen hinaus.
Sie hatte immer noch eine halbe Stunde Zeit. Da sie die Gegend kannte – hier hatte sie nach der Trennung von Milo gewohnt –, beschloss sie, einen Spaziergang zu machen. Sie kam an dem Café vorbei, in dem sie manchmal gefrühstückt hatte, wenn sie es im Speisesaal des Hotels nicht mehr aushalten konnte, und an einem kleinen Kurzwarengeschäft, wo sie Knöpfe und Strümpfe gekauft hatte. Bei der Rückschau auf die Frau, die sie damals gewesen war, empfand sie eine Mischung aus Mitleid und Ungeduld. Sie war so ziellos gewesen, so leicht zu verwunden.
London sah trist und heruntergekommen aus. Es gab kaum Gebäude, die nicht irgendeinen Kriegsschaden davongetragen hatten, und von vielen war nur noch das Gerippe übrig. Bomben hatten klaffende Lücken zwischen den Häusern aufgerissen,
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