Der italienische Geliebte (German Edition)
Interessenten zumurmelte: »Ja, Gerald Nicolsons Tochter, eine ungemein gescheite junge Frau.«
Sie wusste, dass Lewis ihre Arbeit in der Galerie nicht gern sah. Sie hatte sie dennoch angenommen, weil beides, die Arbeit und der Umzug nach London, für sie lebenswichtig gewesen waren. Sie musste ihre Selbstständigkeit wiedergewinnen, und das bedeutete für sie, ihr eigenes Geld zu verdienen. Und ach, die Erleichterung, wieder in London zu sein, wo alles vertraut und richtig war, wo es keine Marschwiesen und kein trügerisches Watt gab, nur die altbekannten Straßen und Häuser, die Läden und die Kaufhäuser und die Menschen, die für die notwendige Ablenkung sorgten. Denn Ablenkung brauchten sie beide, sie und Lewis; es gab so vieles, worüber sie nicht redeten; auf dem dünnen Eis, auf dem sie sich bewegten, so viele gefährliche Stellen, die gemieden werden mussten.
In der ersten Zeit war Lewis niedergeschlagen. Sie gingen selten aus, saßen abends entweder zu Hause und lasen oder machten Spaziergänge in den Parks. Manchmal fand sie, wenn sie nachts erwachte, seine Seite des Bettes leer und hörte ihn in der Wohnung umhergehen, im Hintergrund das gedämpfte Dröhnen des Radios. Lewis hatte seine Schulden bei Frank Kite mit dem Geld von der Versicherung und dem Gewinn aus dem Hausverkauf zurückbezahlt. Aber etwas Ungesundes war zurückgeblieben, das ihr Leben vergiftete, und immer noch konnte ein Läuten spätabends an der Tür sie erschrecken und daran erinnern, was Angst war – dieser eisige Hauch im Rücken, dieses Schwanken des Bodens unter den Füßen.
Der Beginn des neuen Jahrzehnts schien eine gewisse Entspannung mit sich zu bringen. Lewis wurde befördert und hatte endlich den Erfolg, den er immer erstrebt hatte. Sie zogen in eine größere Wohnung um und Lewis nahm wieder Kontakt zu alten Freunden auf. Er wirkte glücklicher und zufriedener, hatte wieder Ähnlichkeit mit dem alten Lewis. Freddie ging mit ihm auf Feste und in Restaurants, aber sie zog die Gesellschaft ihrer eigenen Freunde vor. Sie war lieber mit Julian, Max und den Leavingtons zusammen, die einmal Tessas Freunde gewesen und jetzt die ihren waren. Julian hatte geheiratet und war Vater eines kleinen Sohnes; Ray und Susans zweites Kind, ein Mädchen, kam im Juli 1950 zur Welt.
In diesem Sommer zeigte eine Galerie in Soho eine MaxFischer-Retrospektive. Viele der ausgestellten Aufnahmen waren Bilder von Tessa, Max’ Muse. Tessa lachend an der Serpentine im Hyde Park, Tessa auf dem Laufsteg in Abendkleidern von Dior, und da war auch das Foto von Tessa mit dem Zebra, das früher in der Wohnung in Highbury gestanden hatte. Ein Foto entdeckte Freddie, das sie noch nie gesehen hatte. Max hatte es kurz vor Tessas Abreise nach Italien aufgenommen. Tessa saß in langer Hose und kurzärmeligem Pullover auf einem Bett, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen. Sie war ungeschminkt, und das Haar fiel ihr aus dem Gesicht, sodass die Narbe auf ihrer Stirn zu sehen war. Ihre Schönheit und ihre Zerbrechlichkeit waren anrührend. Auf dem Schild darunter stand, ›Tessa Nicolson 1916–1944‹.
Eines Morgens, als Freddie in dem kleinen Büro hinter der Galerie saß und eine Quittung für einen Verkauf ausschrieb, hörte sie die Türglocke bimmeln. Sie ging in den Laden hinaus. Der Kunde war hochgewachsen und blond, und einen Moment lang stand ihr das Herz still, aber als er sich ihr zuwandte, erkannte sie, dass es nicht Jack war.
Er stellte sich vor. Sein Name war Desmond Fitzgerald, und er war Tessa in Italien begegnet. Sie verabredeten, sich zu treffen, wenn Freddie mit der Arbeit fertig war.
Desmond Fitzgerald führte sie ins Savoy. Er habe seit Ewigkeiten mit ihr sprechen wollen, sagte er, habe aber die größte Mühe gehabt, sie ausfindig zu machen. Er erzählte ihr von seiner Bekanntschaft mit Tessa, von seiner ersten Begegnung mit ihr im Mirabelle vor dem Krieg bis zu dem Tag, an dem Faustina Zanetti ihm mitteilte, dass Tessa tot war. »Dass das passieren musste«, sagte er. Seine Augen waren feucht. »So grausam.« Dann schnäuzte er sich und erzählte Freddie, wie er sich, zusammen mit vielen anderen alliierten Kriegsgefangenen, beinahe ein Jahr lang in den Wäldern auf dem Gut der Zanettis versteckt gehalten hatte. Und er erzählte von Tessa, die sie im Winter regelmäßig mit Nahrung versorgt hatte. »Jeden Abend musste ein anderer von uns auf sie warten«, sagte er. »Aber am liebsten wäre unsere ganze Bande
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