Der italienische Geliebte (German Edition)
über die Ereignisse verloren, sie nahmen jetzt ihren ungelenkten Lauf. Sollte er Rebecca die Wahrheit sagen, obwohl er davor zurückschreckte? Es wäre schrecklich – grausam –, ihr das anzutun, und welchen Sinn hätte es, da Tessa offenbar von einer Heirat absolut nichts wissen wollte?
Wo bin ich da hineingeraten, dachte er verzweifelt, als der Zug schließlich im Bahnhof von Oxford einlief, und sehnte sich plötzlich heftig nach der vertrauten Alltäglichkeit der Alten Mühle, konnte es kaum erwarten, sich einen Whisky einzuschenken und sich in seinem Arbeitszimmer in ein Buch zu vertiefen. Während er durch den Regen nach Hause fuhr, legte er sich ein angebliches Gespräch mit Roger zurecht, der, pingelig wie gewohnt, noch einmal jedes Detail durchgegangen sei, und eine Speisenfolge ( Consommé , Seezunge, Omelette mit Konfitüre) für das Mittagessen.
Rebecca kam die Treppe herunter, als er seinen Regenmantel ablegte.
»Wie war euer Mittagessen, Milo?«
»Nett«, antwortete er.
»Und wie geht es Roger?«
»Gut.«
Ihr Ton warnte ihn. Er sah sie an. Sie stand am Fuß der Treppe. Ihr Gesicht hatte keine Farbe, es war teigig weiß.
»Soviel ich weiß«, sagte sie, »ist Roger in Edinburgh.«
»Was?« Er starrte sie an. Sein erfundenes Mittagessen mit Roger blieb ihm lebhaft im Kopf.
»Roger ist in Edinburgh. Ich habe Miss Gaskin angerufen, sie hat es mir erzählt.«
O Gott. »Du hast im Verlag angerufen?«
»Ja.«
»Du hast mir nachspioniert?« Milo wusste, dass seine Wut unangemessen war.
Als Rebecca einen Schritt auf ihn zukam, wich er unwillkürlich zurück. »Wo bist du gewesen? Wo warst du? In Oxford?«, schrie sie ihn an. »Hast du vielleicht mit Grace King eine kleine Spritztour gemacht? Brauchtest du deshalb das Auto?«
Grace King? »Was zum Teufel redest du da?«, fragte er verständnislos.
» Lüg mich nicht an.« Ihre Stimme wurde schrill. »Ich weiß, dass du etwas mit ihr hast.«
Da begriff er. Rebecca glaubte, er hätte eine Affäre mit der langweiligen Grace King mit den Hasenzähnen. »Ach, lass mich bloß in Frieden«, knirschte er wütend und rannte an ihr vorbei ins Wohnzimmer. »Mir reicht’s jetzt ein für alle Mal.«
Er riss die Tür der Kredenz auf. Sein Kopf dröhnte, und er war unglaublich müde. » Dir reicht’s?«, schrie sie, ihm folgend. »Ach, du Armer. Und was ist mit mir? Was glaubst du wohl, wie ich mich fühle?«
In der Zeit, die er brauchte, um die Whiskykaraffe herauszuholen und zu öffnen, versuchte er, sich zu sammeln. Er erkannte, dass sie ihm vielleicht, ohne es zu wollen, einen Ausweg gezeigt hatte. Neben der Empörung über ihre absurde Anschuldigung verspürte er plötzliche Erleichterung. Wie befreiend, die Wahrheit sagen zu können – zumindest teilweise.
»Zu deiner Information«, sagte er, sich ihr zuwendend, »ich habe Grace King seit Wochen nicht gesehen.«
»Das glaube ich dir nicht.« Sie spie ihm die Worte ins Gesicht.
»Glaub doch, was du willst.«
»Ich habe dich auf dem Gartenfest gesehen.« Ihre Stimme war ein leises giftiges Zischen. »Mit ihr zusammen.«
Er versuchte, sich zu erinnern. »Ich habe mit Miss King gesprochen «, sagte er. »Ja und? Sie gehörte schließlich zu unseren Gästen.«
»Ich habe dich gesehen .« Sie wurde wieder so laut und schrill, dass er zusammenzuckte. »Du hast sie angefasst. Du hast sie am Arm gehalten .«
Hatte er das getan? Er konnte sich nicht erinnern. Wütend und schuldbewusst zugleich kippte er einen Schluck Whisky hinunter.
Er ließ sich in einen Sessel fallen. »Grace Kings Mutter ist unheilbar an Krebs erkrankt«, sagte er kalt. »Sie hat es mir vor ein paar Monaten erzählt. Ich habe mich bemüht, nett zu ihr zu sein, und ihr die Möglichkeit gegeben, sich bei mir auszuweinen.« Und wie diese Grace King weinen konnte, dachte er. Eimerweise waren im Eagle and Child die Tränen geflossen.
»Du lügst.« Sie verzog verächtlich den Mund, und in ihren Augen stand Hass.
Er hatte sie plötzlich so satt, dass er am liebsten aufgestanden und gegangen wäre. »Herrgott noch mal, Rebecca, das Mädchen ist ganze neunzehn Jahre alt. Die würde mich im Traum nicht haben wollen.«
Widerlicher Heuchler. Tessa war nur wenige Jahre älter als Grace King. Aber Tessa war eben viel reifer. Tessa Nicolson, ahnte er, hatte schon lange aufgehört, ein Kind zu sein.
»Annette Lyle war auch erst dreiundzwanzig«,
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