Der italienische Geliebte (German Edition)
aber sie kommen einfach. Doch der Gedanke, in Dr. Hunters nach Karbol und Bodenwachs riechendem Sprechzimmer zu sitzen und sich seine gönnerhaften Ratschläge anzuhören, sie solle doch einen Abendkurs belegen oder einen Ausflug nach London unternehmen – Tapetenwechsel kann nur guttun, Mrs. Rycroft – war abschreckend.
Vielleicht hatte der Dr. Hunter ihrer Phantasie ja recht. Vielleicht brauchte sie einfach mehr Beschäftigung. Die Monate nach Weihnachten waren immer trostlos – im Garten gab es kaum etwas zu tun und eine Ausfahrt mit dem Auto hatte wenig Reiz. Sie würde ihren Tag neu einteilen, beschloss sie. Sie würde jeden Morgen einen langen Spaziergang mit Julia machen und darauf achten, dass sie jeden Tag mit jemandem Kontakt hatte, mit Meriel oder Glyn oder einer ihrer Bekannten im Dorf. An den Tagen, an denen Milo den Wagen nicht brauchte, würde sie es übernehmen, alte Damen ins Radcliffe-Krankenhaus zu fahren. Sie würde neue Kochrezepte ausprobieren, um ihr Repertoire zu erweitern. Ende März wollten sie ein Fest geben, um die Veröffentlichung von Mittwinterstimmen zu feiern.
Rebecca räumte die Schränke in der Alten Mühle aus, gab Kleidung und Bücher an eine Wohltätigkeitsorganisation und trug Kartons voller Sachen, die seit Jahren nicht mehr benützt worden waren, auf den Dachboden. Dort entdeckte sie ein Bündel Briefe und Karten. Während sie es durchging, war sie sich bewusst, dass sie nach Beweisen suchte – einem Liebesbrief, einer Ansichtskarte, Geliebter Milo … Grüße und Küsse … Von wem? Nicht von Grace King. Sie war sicher, dass Milo ihr da die Wahrheit gesagt hatte. Aber die Briefe waren alt und viele an sie selbst gerichtet – weitschweifige Episteln von Schulfreundinnen, mit denen sie längst keine Verbindung mehr hatte, Einladungen zu Festen, Hochzeiten, Taufen, aus Sentimentalität aufbewahrt. Wäre ihr Leben anders verlaufen, wenn sie ein Kind gehabt hätten? Wahrscheinlich ja, ein Kind hätte ihr zu tun gegeben, und sie hätte nicht ihre ganze Liebe und Leidenschaft einzig auf Milo konzentriert. Aber wäre es besser gewesen? Das war die Frage. Ihr imaginäres Kind, Archie oder Oscar, mit dem freundlichen, offenen Gesicht, seiner Selbstständigkeit und seinem intuitiven Verstehen ihrer Stimmungen – hätte Milo es übel genommen, wenn sie einen Teil ihrer Liebe diesem Kind gegeben hätte?
Sie holte ihre Staffelei und ihre Bleistifte. Während sie einen Krug mit Palmkätzchen zeichnete, zeichnete sie in Gedanken ganz andere Bilder. Angenommen, er war in irgendeine junge Frau verliebt. Angenommen, sie lebte in Oxford, wie damals Annette Lyle. Ein Leichtes, sich mit ihr zu treffen – zum heimlichen Stelldichein am Nachmittag oder auf ein Stündchen am Abend, beschwingt vom Erfolg seiner Vorlesung. Aber hätte er nicht Angst, gesehen zu werden, so wie er schließlich mit Annette Lyle gesehen worden war? Der Seitensprung war ans Licht gekommen, als eine Bekannte die beiden in einer Hotelbar außerhalb von Oxford beobachtet hatte. Dann also nicht Oxford, sondern London. Milos Geliebte würde ihre Briefe an sein Büro an der Universität schicken; er würde sie anrufen, nicht sie ihn. Er würde sie anrufen, wenn er allein im Haus war, oder aber von der Telefonzelle im Dorf aus. So einfach.
Er ist unruhiger als sonst. Er fährt zusammen, wenn das Telefon läutet oder der Briefträger klopft. Er macht jeden Abend einen langen Spaziergang mit dem Hund, obwohl er sonst bei schlechtem Wetter immer sehr schnell wieder zu Hause ist. Er sieht nicht glücklich aus – wenn er in irgendeine Frau vernarrt wäre, müsste er doch glücklich aussehen, oder nicht?
In Mantel und Hut vermummt folgte sie ihm eines Abends. Straßenlampen gab es keine, und im feinen Dunst konnte sie nur den schwankenden Lichtkegel seiner Taschenlampe erkennen. Im Dorf ging Milo zielstrebig an der Telefonzelle vorbei. Er gönnte ihr nicht einmal einen Blick. Tief beschämt und mit dem Gefühl, sich lächerlich gemacht zu haben, ging sie wieder nach Hause.
Die Rückkehr zur Arbeit gestaltete sich schwieriger, als Tessa es sich vorgestellt hatte. Zum einen standen ihr diese lästigen fünf Zentimeter in der Taille im Weg, die nicht weichen wollten. Das andere Hindernis war die Missbilligung, die ihr schon während der Schwangerschaft entgegengeschlagen war. Die großen Kaufhäuser zeigten ihr die kalte Schulter und teilten ihr mit, sie hätten ihre Mannequins für die
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