Der italienische Geliebte (German Edition)
zurückfahren. Das hatte sie in den Tagen ihres Aufenthalts in Florenz erkannt – dass England ihre Heimat war, so wie Italien Tessas Heimat war, die sie nicht verlassen würde, ganz gleich, was Freddie sagte oder tat.
Vor dem Bahnhof fuhren Autos vor, denen Beamte in Uniform und Geschäftsleute in schwarzen Anzügen und Hüten entstiegen, Männer mit den scharf gebogenen Nasen und den schmalen Lippen von Medici-Fürsten, die gelangweilt dastanden und warteten, während ihre Chauffeure und Sekretäre das Gepäck aus dem Wagen holten. Menschenmengen strömten in die Schalterhalle, Soldaten und Schulkinder, von Nonnen begleitet, Mütter, die ihre Kleinen in Kinderwägen über den glänzenden schwarzen Marmorboden schoben.
Freddie, die nie gern zu spät kam, hatte so gehetzt, dass sie viel zu früh am Bahnhof waren.
»Lass mich deine Karte doch umtauschen und dir einen Platz im Schlafwagen besorgen«, sagte Tessa. »Du kannst doch nicht die ganze Fahrt nach Paris sitzen.«
»Nein, danke«, lehnte Freddie ab. »Lieb von dir, aber es macht mir nichts aus. Wirklich nicht.«
»Hast du etwas zu lesen für die Reise – eine Zeitschrift?«
»Ich brauche keine. Ich habe ein Buch. Außerdem sind sie sowieso alle auf Italienisch. Ich brauche nichts.«
»Nein.« Tessa sah sie lächelnd an. »Natürlich nicht.«
Freddie war dem Weinen nahe. »Doch, ich brauche dich .«
Tessa nickte. »Ich weiß, Schatz.«
»Du musst gehen.« Freddie schaute zur Bahnhofsuhr hinauf. »Der Laden –«
»Zum Teufel mit dem Laden. Dann komme ich eben zu spät.«
»Nein, Tessa. Geh lieber.« Freddie versuchte zu lächeln. »Sonst fange ich noch an zu heulen.«
Tessa nickte rasch. Dann umarmten sie sich und hielten einander fest.
»Du kommst zurecht?«, fragte Tessa.
»Das weißt du doch.«
»Schreib mir, Freddie.«
»Versprochen. Aber du mir auch, Tessa. Oft«, sagte sie heftig.
Dann ging Tessa. Die Soldaten und die reichen Männer mit ihrem Gefolge machten ihr Platz. Minutenlang stand Freddie wie erstarrt, dann drängte sie sich, von dem heftigen Verlangen ergriffen, einen letzten Blick auf ihre Schwester zu werfen, durch das Menschengewühl zum Ausgang und auf den Bahnhofsplatz hinaus. Und da war Tessa, die in ihrem laubgrünen Kleid den Bürgersteig entlangging und mit schnellem Schritt die Straße überquerte. Das letzte Bild, das für immer in ihrem Gedächtnis eingeschlossen sein würde. Dann bog Tessa in eine Seitenstraße ab und war verschwunden.
8
Freddie ließ das Getümmel von Autos und Taxis vor dem Bahnhof hinter sich und suchte sich einen ruhigen Ort, wo sie ihren Koffer niederstellte, die Arme um sich schlang und tief Atem holte.
Plötzlich schnappte sich jemand ihren Koffer, sagte in kultiviertem englischem Tonfall : »Darf ich Ihnen behilflich sein?«, und entfernte sich mit ihrem Koffer im Eiltempo.
Sie rannte ihm nach. »Stellen Sie den Koffer hin.«
Er warf einen raschen Blick über seine Schulter, aber nicht zu ihr, sondern zu jemandem, der sich offenbar hinter ihr befand. »Wie Sie wollen.« Er stellte den Koffer ab. Als sie ihn an sich nehmen wollte, riss er sie ungestüm an sich und küsste sie.
Freddie konnte nur erstickte Schreie ausstoßen und stampfte protestierend mit dem Fuß.
»Aua«, sagte er. »Das tut weh. Ich tue das einzig für König und Vaterland. Wo bleibt Ihr Patriotismus?«
Er küsste sie noch einmal, fest auf den Mund, die Arme so eng um sie geschlossen, dass sie sich kaum rühren konnte. Er küsste sehr gut, so gut, dass sie ein, zwei Sekunden lang vergaß, dass da ein Wildfremder sie küsste. Als er sie losließ, war sie im ersten Moment sprachlos vor Schreck, dann wollte sie um Hilfe schreien, aber er sagte schnell und leise: »Bitte, schreien Sie nicht. Ich tue Ihnen nichts, ich verspreche es, aber hinter mir sind ein paar gar nicht nette Herren her, denen ich gern aus dem Weg gehen möchte.« Er ergriff wieder ihren Koffer, legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie energisch vom Bahnhof weg. »Sie suchen eine Person, nicht zwei. Mit ein bisschen Glück wird ihnen also ein Liebespaar, das gerade den Bahnhof verlässt, gar nicht auffallen, und wir können uns unbemerkt aus dem Staub machen.«
Er schleppte sie über die Piazza Adua. »Ich will aber den Bahnhof nicht verlassen«, rief Freddie aufgebracht. »Ich muss zu meinem Zug.«
»Die Gegend hier ist ungünstig für mich. Die
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