Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Jade-Pavillon

Der Jade-Pavillon

Titel: Der Jade-Pavillon
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
Xian gesagt, sie haben das Leben hinter sich. Warum schießen Sie nicht, Genosse Kommissar?
    Chang zögerte, vielleicht zum ersten Mal in seiner Laufbahn als Vollstrecker von Maos Traum einer klassenlosen Gesellschaft. Verwunderung stieg in ihm auf über den inneren Widerstand, den Finger zu krümmen und das zu tun, was er schon hundertmal getan hatte, ohne das geringste Gefühl. Er atmete ein paarmal tief ein und aus, zog dann die Pistole von Huangs Genick weg und ließ die Hand sinken. Plötzlich wußte er, daß es die Augen waren, die ihn hinderten, Huang zu erschießen, die Augen dieses Mädchens, das Huangs kleine Tochter war, dieser Kinderblick ohne Angst, diese helle, aber feste Stimme, die zu ihm sagte: »Ja, der Lehrer ist mein Vater«, dieser Stolz in den kindlichen Worten, und dann das ehrliche »Du stinkst!« und das Weglaufen der Kleinen, nicht vor ihm, sondern vor seinem schnapsgetränkten Atem.
    »Sieh mich an, Genosse Lehrer«, sagte Chang streng.
    Huang hob den Kopf und schluckte mehrmals. Noch ist die Qual nicht zu Ende, dachte er. Er will mich foltern, er will sich weiden an meiner Angst. Aber Angst habe ich nicht, Herr Kommissar. Quälen Sie mich, wenn's Ihnen beliebt … Wir haben Tradition im Dulden, fünftausend Jahre lang unter den Kaisern, heute unter Mao. Erstaunlich, daß wir nicht schon mit geduckter Haltung geboren werden. »Ich sehe Sie an«, sagte er. »Ich stehe Ihnen zur Verfügung.«
    »Wir haben noch etwas vergessen, Huang Keli«, sagte Chang und steckte die Pistole in den Gürtel zurück.
    Das verhieß nichts Gutes, empfand Huang und nahm innerlich alle Kraft zusammen, auch unter Folter einen seiner würdigen Tod zu sterben.
    »Dein Geständnis«, sagte Chang.
    »Was soll ich gestehen?« Huang blickte Chang irritiert an. »Ich habe immer meine Pflicht erfüllt.«
    »Im Geist Maos?«
    »Im Geist der Humanität.«
    »Reaktionär!« Chang wandte sich ab, als ein neuer, langgezogener Schrei Tifeis vom Baum her über den Schulplatz flog. Er winkte energisch, und sofort hörten die Rotgardisten auf, Tifei mit den Bajonettspitzen zu kitzeln; sie traten zurück, zogen die Gewehre zu sich heran und warteten auf weitere Befehle.
    Chang wandte sich wieder Huang zu. »Du wirst bereuen«, sagte er und durchbohrte mit seinem Blick fast den von der Tinte geschwärzten Kopf. »Du wirst jetzt über den Platz kriechen wie ein Lurch und rufen: ›Ich bin die reaktionäre akademische Autorität Huang Keli! Ich bin der Klassenfeind Huang Keli!‹ Los, kriech!«
    Und Huang kroch auf Händen und Knien über den Schulplatz und schrie, was Chang ihm vorsagte. Er kroch an seinem an den Baum gefesselten und aus unzähligen Stichwunden blutenden Sohn vorbei und schrie ihm ins Gesicht: »Ich bin der Klassenfeind Huang Keli!«, und während er das schrie, freute er sich, daß er Tifei noch lebend sah und nicht mit aufgeschlitztem Leib, und so umrundete er den Platz und brüllte sein Schuldbekenntnis heraus und dachte dabei: Wenn's dir Spaß macht, sollst du ihn haben. Nur lasse meine Familie leben!
    »Einen Eimer!« rief Chang seinen Rotgardisten zu. »Einen Eimer und einen Strick oder einen Draht. Holt aus dem Tempel Räucherstäbchen! Schnell, schnell, sage ich!«
    Am Dorftempel arbeiteten schon sechs Rotgardisten und zerschlugen mit Beilen und Stangen die aus Ton gebrannte und bemalte Buddhastatue, den Opferaltar, die frommen Spruchbänder und die Schnitzereien an den Türen, den Wänden und der hölzernen Decke. Der Tempelwärter, ein uralter Mann mit einem zerfledderten falben Bart, lag in einer Blutlache neben dem Buddha und wurde von den Trümmern zugedeckt, in die man den Gottesverkünder zerschlug. Ein paar Frauen standen vor dem zerstörten Tempel, stumm, regungslos, in ihrer Miao-Tracht, die sie immer und nicht nur an Festtagen trugen, in den Haaren lange Haarspieße aus reinem, handgehämmertem Silber. Die Rotgardisten beachteten sie nicht und vergewaltigten sie nicht wie die Frauen in allen Dörfern, durch die sie gezogen waren – sie waren zu alt.
    Huang hatte den Schulplatz einmal kriechend umrundet und hielt vor Chang an. Er blickte an ihm hoch und wartete. Aus dem Lehrerhaus rannte ein Rotgardist mit einem großen Blecheimer auf sie zu. Er schien Changs Methoden zu kennen, hatte den Eimer mit dicken Steinen gefüllt, die rußgeschwärzt waren, denn sie dienten als Umrandung der Feuerstelle im Haus, und er hatte einen Draht auch schon als Schlinge an dem Eimerhenkel befestigt.
    Chang nickte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher