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Der Jade-Pavillon

Der Jade-Pavillon

Titel: Der Jade-Pavillon
Autoren: Heinz G. Konsalik
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gezwungen wurde, sie zu suchen und die Rotgardisten hinter ihr lauerten, war es besser, sich nicht zu zeigen. Sie sah noch immer den nackten Körper der Mutter auf dem Tisch liegen, die Soldaten mit hängender Hose über ihr, sie hörte das Schreien der Mutter, und an ihrem Zeigefinger klebte noch immer das nun getrocknete Blut, das sie zwischen den gespreizten Beinen aufgetupft hatte. Erst als Jinvan rief: »Lida, bist du hier? Komm heraus, ich bin allein!«, entschloß sie sich, aus dem Reisstroh zu krabbeln. »Sie haben mich nicht gefunden«, sagte sie. »Sind sie weg?«
    »Nein, sie sind noch hier. Aber uns tun sie nichts mehr. Der große Herr, der Kommissar, will dich sehen.«
    »Der Mann, der aus dem Hals stinkt?«
    »Ja, der.« Jinvan drückte Lida an sich und zupfte ihr dabei das Stroh aus dem Haar. »Du hast uns das Leben gerettet, sagt er. Was hast du mit ihm gesprochen?«
    »Ich habe zu ihm gesagt: ›Du stinkst.‹«
    »Und du lebst noch – «
    »Ich bin weggelaufen. Ich kann schneller laufen als er.«
    »Hast du gesehen, was die Rotgardisten mit mir gemacht haben?«
    »Ja. Du hast geblutet. Zwischen den Beinen. Warum?«
    »Erzähl es deinem Vater, Lida. Ich kann es nicht.« Jinvan drückte Lida noch fester an sich. Sie rettet wirklich unser Leben, dachte sie dabei. Wäre sie nicht da, würde ich mich heute nacht an einen Balken hängen.
    »Sie haben dir sehr weh getan?« fragte Lida.
    »Ja. Später, wenn du groß bist, wirst du es verstehen.« Sie nahm Lida bei der Hand und spürte, daß dieses Kind ihr neue Kraft geben konnte. »Sei höflich zu dem großen Kommissar und sag nicht wieder, daß er stinkt. Ein so hoher Herr wie Chang Lifu stinkt nicht, und wenn, dann sagt man es nicht.«
    »Ich habe gelernt, nie zu lügen.«
    »Das ist keine Lüge, Lida.« Jinvan verließ mit ihr an der Hand den Stall und benutzte den Weg zu der Hintertür des Lehrerhauses. »Es ist Höflichkeit, und Höflichkeit ist eine der Tugenden, die den Menschen ehren.«
    Chang begrüßte Lida mit einem langen Blick. Er nahm wieder einen Schluck des würzigen Tees, ließ die Flüssigkeit im Mund kreisen, zog sie durch die Zähne und schluckte sie erst dann hinunter. Er winkte Lida zu sich heran, beugte sich zu ihr hinab und hauchte sie an. »Rieche ich noch?« fragte er. Das Wort ›stinken‹ vermied er – es beleidigte ihn.
    »Nein, hoher Herr.« Lida blickte ihm tapfer in die lauernden Augen. »Jetzt nicht mehr. Und das ist die Wahrheit, nicht Höflichkeit.«
    Chang richtete sich auf und lachte. »Du hast eine kluge Tochter, Lehrer Huang. Paß auf sie auf wie auf dein Augenlicht. Ich mache kein Geheimnis daraus: Ich habe auch Kinder getötet oder töten lassen. Die Brut von kapitalistischen Reaktionären. Die Kinder von heute sind die Feinde von morgen, das ist die einzige alte Weisheit, die ich gelten lasse. Aber eure Tochter und auch ihr werdet weiterleben. Sie hat die Augen einer Nachtigall – nur einmal im Leben habe ich sie singen hören und habe sie gesehen. Ich werde das nie vergessen.« Er holte tief Atem, rutschte vom Tisch und strich Lida über die kurzen schwarzen Haare. »Wir bleiben hier, Lehrer Huang. Frau, koch uns zum Abend ein gutes Essen.« Er verließ das Haus, um seinen Gardisten den Befehl zum Bleiben zu geben.
    Huang hob das blutige Tuch auf.
    Jinvan senkte den Kopf und nickte. »Ja, sie haben es getan«, sagte sie leise. »Ich bin eine unwürdige Frau für dich.«
    »Heute nacht werde ich Chang töten.« Huang ballte die Fäuste. »Heute nacht.« Er sagte es mit allem Ernst, ja mit einer gewissen Feierlichkeit, denn nie in seinem Leben hätte Huang daran gedacht, einen Menschen umzubringen, und wenn in den Zeitungen die Berichte standen, wie viele Tausende, ja Millionen Chinesen Opfer des Kulturkampfes von Mao geworden waren, hatte er immer den Kopf geschüttelt und gesagt: »Warum bloß? Kann mir, einem dummen Volksschullehrer, irgend jemand ein solches Morden im Namen der Kultur erklären? Sie zerstören die tausendjährigen Tempel – wozu? Was haben sie Besseres zu bieten als die kleine rote Bibel mit Maos Sprüchen, denen man sogar vieles entgegenhalten kann, wenn man logisch denkt? Meine Lieben, wie schrecklich verändert sich unsere Welt in ein paar Jahren, wer hätte das für möglich gehalten! Uns, ein Volk mit einer fünftausend Jahre alten Tradition, man schmilzt uns ein wie altes Eisen und gießt daraus neue anonyme Menschen. Wer kann das verstehen?«
    Natürlich sprach Huang das nicht laut
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