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Der Jade-Pavillon

Der Jade-Pavillon

Titel: Der Jade-Pavillon
Autoren: Heinz G. Konsalik
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zufrieden und stellte den Eimer zwischen sich und Huang. »Es ist schwer, Lehrer Huang, eine neue Lehre zu begreifen«, sagte er, streifte die Drahtschlinge um Huangs Hals und überzeugte sich, daß kein Stück Stoff zwischen ihr und der Haut war. »Aber was ist schwer? Schwere begreift nur der, der sie selbst tragen muß. Steh auf!«
    Huang stemmte sich mit den Händen hoch, fiel aber unter dem Gewicht des mit Steinen gefüllten Eimers wieder zurück. Gleichzeitig spürte er den stechenden Schmerz, als der Draht sich in seinen Nacken einschnitt. So einfach, dachte er, und so wirksam. Sie sind ein guter Erfinder, Genosse Kommissar. Aber Sie werden erstaunt sein, wenn ich jetzt doch aufstehe, auch wenn mir der Draht bis zu den Nackenwirbeln durch das Fleisch dringt.
    Huang holte tief Atem und drückte seinen Körper empor. Mit unbeweglichem Gesicht, ohne einen Laut von sich zu geben, stand er vor Chang, den Eimer mit den schweren Steinen vor der Brust. Er spürte, wie der Draht tief in seinen Nacken einschnitt, wie sein Blut warm über Schultern und Rücken lief, aber er sah Chang mit ruhigen Augen an und sagte, als dieser überrascht schwieg: »Ich stehe, Genosse Kommissar.«
    »Sag: ›Ich bin der Verbrecher Huang Keli.‹«
    Huang sagte es mit normaler, sogar fester Stimme, aber Chang war nicht zufrieden.
    »Lauter!«
    »Ich bin der Verbrecher Huang Keli!« schrie Huang.
    »Lauf bis zum Schulhaus und zurück!«
    Auch das tat Huang, aber als er wieder vor Chang stand, zuckten seine Lider, und Speichel rann ihm aus dem Mundwinkeln. Er konnte es nicht verhindern, und er schämte sich, Chang zeigen zu müssen, wie schwach er wirklich war. Bleib auf den Beinen, sagte er zu sich. Und dann befehlend: Zittere nicht, linkes Knie! Steh gerade, rechtes Bein! Nacken, du spürst nicht den Draht, der dir ins Fleisch schneidet! Alles an mir: Ihr spürt nichts! Ihr spürt nichts! Huang Keli hat keine Schmerzen!
    Vom Tempel kam ein Rotgardist gelaufen, in den Händen ein Bambusröhrchen, gefüllt mit Räucherstäbchen.
    Chang nahm es ihm ab, zog zwei Räucherstäbchen heraus und drückte je eins in Huangs Hände. Darauf griff er in die Tasche seines Rockes, holte eine Schachtel Streichhölzer hervor und zeigte mit ihr auf den Boden. »Niederknien!«
    Huang kniete nieder. Der Eimer knirschte auf den Boden, die Drahtschlinge entspannte sich. Und wieder befahl sich Huang: Falle nicht um! Achte nicht auf deine Schmerzen! Du hast keine Schmerzen! Du hast keine Schmerzen!
    Chang beugte sich zu Huang hinunter und steckte die Räucherstäbchen an. Ein dünner, fadenähnlicher Rauch stieg von ihren Spitzen auf, es roch nach Kräutern und Gewürzen. »Und jetzt sprich zwanzigmal: ›Großer Vorsitzender Mao Zedong, Vergebung für meine Verbrechen!‹ Sprich laut, damit deine Worte von den Wolken zu ihm getragen werden.«
    Und auch das tat Huang. Zwanzigmal rief er Mao um Vergebung an, als sei er der neue, allmächtige Gott, der jetzt über die von allem alten Denken gereinigten Chinesen regierte.
    »Was bist du für ein Mann!« sagte Chang nach dem zwanzigmaligen Rufen. »Warum bist du ein armseliger Lehrer geworden und nicht ein Revolutionär?«
    Huang wagte es nach dieser ungewöhnlichen Frage, die Drahtschlinge über seinen Kopf zu ziehen und den mit Steinen gefüllten Blecheimer ein Stück von sich wegzuschieben. Chang hinderte ihn nicht daran und gab auch keine Befehle zu weiteren Schikanen. Er ließ zu, daß Huang aufstand und die rechte Hand in seinen Nacken preßte, wo der Draht tief ins Fleisch geschnitten hatte. Die lange, schmale Wunde blutete noch immer; er sah aus, als habe Huang sich für ein fröhliches Fest mit Farbe verkleidet: der schwarze Kopf und darunter das Rot des Blutes.
    »Ich war nie ein mutiger Mann, Genosse Kommissar«, sagte Huang und wunderte sich, daß man ihn leben ließ, noch leben ließ. »Es war schon mutig genug, Lehrer zu werden. Mein ehrwürdiger Vater versteht es bis heute noch nicht. Aber die alten Kulturen und die Moral im Menschen waren schon immer mein Vorbild. Ich sah es als meine Aufgabe an, sie der Jugend nahezubringen.«
    »Und jetzt gibt es eine neue Kultur und eine neue Moral, Huang Keli!« Chang sah zu, wie Huang die fast niedergebrannten Räucherstäbchen austrat und den Rest mit den Schuhen zermalmte. »Das hast du doch jetzt begriffen?«
    »Ja, ich habe es begriffen«, antwortete Huang gehorsam. Er blickte hinüber zu dem Baum, an den Tifei noch immer gefesselt war. »Kann ich meinen Sohn
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