Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Jadereiter

Der Jadereiter

Titel: Der Jadereiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
Vom Netzwerk:
wenigsten erwartet; er hat das Essen früher beendet, obwohl er sich amüsierte, und Anweisung gegeben, mich nach oben in das Zimmer zu bringen, in dem die Mädchen ihre Stundenfreier bedienen. Ich will nicht hier eindösen, nicht das Mädchen anschauen, das vor mir die Treppe hinaufgeht, weil ich in ihr meine Mutter vor fünfundzwanzig Jahren sehe, aber ich weiß, daß ich es nicht hinaus auf die Straße schaffen würde. Da ich Angst habe, im Schlaf das Bett zu beschmutzen, lege ich mich auf den Boden wie eine Nutte. Nach einem solchen Gelage träume ich natürlich von Paris.
    In der Nähe der Opéra, in einem Café mit einem Glasvorbau, der drei Viertel des Gehsteigs einnahm, und Kellnern, die noch unhöflicher und arroganter waren als im Rest der Stadt, sagte meine Mutter: »Wenn er bloß hundert Jahre jünger wäre.«
    Das war kaum eine Übertreibung. Ich hatte Monsieur Truffaut im Paisleymorgenmantel seine weitläufige Wohnung im Cinquième Arrondissement durchschreiten sehen, und er hatte dabei wie ein Untoter gewirkt. Es war, als hätte er seinen Geist während der Nacht im Grab deponiert und erst am Mittag, wenn er alle seine Pillen geschluckt hatte, gemerkt, daß er noch am Leben war.
    Nong erzählte mir, daß er keine hohen Ansprüche stellte. Er gehörte zu jenen Franzosen, die es gewöhnt waren, einen jungen Frauenkörper neben sich im Bett zu haben, und nicht einsahen, daran etwas zu ändern, nur weil ihr eigener Körper ihnen den Dienst versagte.
    Es war nicht schwierig, sich dem Rhythmus des alten Mannes anzupassen. Den Vormittag hatten Nong und ich für uns. Die Stunde zwischen zwölf und eins verbrachte Monsieur Truffaut damit, seine Pillen zu schlucken und – sobald diese zu wirken begannen – mit wachsender Begeisterung die Tageszeitungen zu lesen. Hinterher marschierten wir in eines der Weltklasseetablissements, in denen man ihn behandelte wie den Sonnenkönig. Maxim’s, Lucas Carton, das Restaurant im exklusiven Feinkostgeschäft Fauchon, Le Robuchon – diese Kathedralen der Haute Cuisine waren für das Barmädchen und ihren Sohn Alltag. Mit echter Pariser Diskretion verkniffen sich die Kellner, sich hinter dem Rücken des alten Mannes zuzuzwinkern. Sie nannten Nong »Madame« und mich »Monsieur«.
    Monsieur Truffauts Nachmittagsenergie reichte für eine Englischlehrstunde mit französischen Unterbrechungen – eine Offenbarung für mich. Der alte Mann war der Ansicht, Englisch lerne man nur, um aus Auseinandersetzungen mit Engländern und Amerikanern siegreich hervorzugehen, am besten, ohne daß das Gegenüber etwas davon bemerkte. Er brachte mir die Feinheiten der Sprache bei: den effektiven Einsatz von Sarkasmus; den kurzen, beißenden Schlußstrich unter dem Monolog eines Langweilers; die Methode, wie man dem anderen sagte, daß er ein Trottel war, ohne daß er selbst es merkte – es handelte sich um das Englisch eines Fechtmeisters, und ich war hingerissen.
    Von ihm lernte ich auch, was Vergnügen bedeutet. Ein Mittag- oder Abendessen in Restaurants wie dem Lucas Carton ging man mit Hochachtung an, wie man eine schöne Frau verführt. Das Vergnügen, das ausgezeichnetes Essen bereitete, war verläßlicher als Sex – dabei zwinkerte er Nong voller Selbstironie zu, was sie lächeln ließ. »Paris ist eine alte Hure, aber eine mit fünf Sternen.«
    Vor dem Essen machte man einen Spaziergang und nahm einen Aperitif in einem der Straßencafés. »Wähle einen Ort voller Leben, voller Faszination, voller Laster. Und dann begib dich langsam zum Tempel des Vergnügens.«
    Der alte Mann zeigte mir, was ich nie haben würde: Weitläufigkeit, kultivierte Konversation, jenen besonderen Beruf, der letztlich nur eine Fortsetzung der gesellschaftlichen Kontakte war. Ähnlich wie der Colonel, den ich seinerzeit noch nicht kannte, war Monsieur Truffaut ein Glückskind, ein Angehöriger jener Schicht, zu der ich, das wußte ich schon damals, nie Zugang haben würde. Doch er besaß noch etwas anderes, eine Authentizität, nach der Vikorn nie streben würde. Jeden Tag nach unserer gemeinsamen Englischstunde las Monsieur Truffaut völlig verzückt zwei Seiten aus dem Buch eines Mannes namens Marcel Proust. Auch Nong fiel sie auf – die Authentizität, nicht die Sache mit Proust. Ich glaube, mit einem zwanzig Jahre jüngeren Mann hätte sie sich abfinden können, denn ihnen war die illusionslose Leidenschaft für das Leben gemein. Mehr als einmal sah ich, wie sie versuchte, sich ihm zu nähern, doch sie

Weitere Kostenlose Bücher