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Der Jadereiter

Der Jadereiter

Titel: Der Jadereiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
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wußten beide, daß er einfach nicht mehr genug Kraft besaß. O ja, wir hätten glücklich sein können in Paris, und ein paar Monate lang waren wir es auch.
    Das Unvermeidliche ereignete sich in der fünfzehnten Woche unseres Aufenthalts. Mitten in der Nacht mußte meine Mutter eine Nummer wählen, die der alte Mann ihr für den Notfall gegeben hatte, und bald darauf traf der Arzt mit Sauerstoff und Infusionen ein.
    Es war kein schwerer Schlaganfall, aber er rief eine kleine Armee am Erbe interessierter Verwandter auf den Plan, die einen aus ihren Reihen erkor, Nong zu sagen, daß es Zeit war zu gehen. Dem alten Mann hatten sie die Zustimmung abgerungen – er war kaum in der Verfassung, sich zu wehren –, doch er bewies noch einmal Stil und bestand darauf, daß Mutter und Sohn mit einem Erster-Klasse-Ticket der Air France, zu der er Familienverbindungen hatte, nach Thailand zurückkehrten. Am Flughafen wurden Nong und ich von einem Vertreter der Air France in Empfang genommen, und während des Flugs behandelte man uns wie siamesische Berühmtheiten, Angehörige einer neuen Generation braunhäutiger milliardenschwerer Unternehmer. Nong stieß einen Seufzer aus, als die klebrige Hitze von Krung Thep uns wieder umfing und wir uns in die Taxischlange einreihten. Die Rückkehr in die Bars fiel ihr nach dem Aufenthalt in Paris besonders schwer.
     
    Ich erwache, weil ein vertrauter Geist an meinen Füßen nagt.

20
    Er ist männlichen Geschlechts, fast drei Meter groß, hat den runden Kopf einer Zecke, winzige Füße und Arme. Sein Mund ist so groß wie ein Nadelöhr, genau so, wie es in den Geschichten immer heißt. Ich habe ihn zu oft gesehen, um mich wirklich vor ihm zu fürchten, aber das Echo meiner Kindheit macht mich wütend, weil ich das Gefühl habe, in all den Jahren nicht vorangekommen zu sein. Von unten höre ich gedämpftes Wummern aus den Lautsprecheranlagen des Clubs, doch der hungrige Geist und ich sind ganz allein in einem urzeitlichen Raum. Der Geist eines Menschen, der zu Lebzeiten gierig und egoistisch war und nun tausend Jahre mit jenem winzigen Mund verbringen muß, der nie genug Nahrung für den riesigen Körper aufnehmen kann.
    Die hungrigen sind die verbreitetsten unserer einheimischen Geister, von denen es viele verschiedene gibt. Es wundert mich nicht, ihn in einem Go-go-Club anzutreffen, denn seine Art nährt sich vom Laster. Wir glauben übrigens alle an diese Geister, sogar diejenigen, die das Ausländern gegenüber nie zugeben würden. Für viele Menschen, besonders die auf dem Land, sind die Untoten richtige Nervensägen. Zu ihren ekligeren Angewohnheiten gehört es, mitten in der Nacht mit dem Kopf unterm Arm auf ruhigen Straßen aufzutauchen. Häufiger kommt es allerdings vor, daß sie mit starrem Blick und schlaffen Lippen am Fuß des Bettes erscheinen. Sie bringen Unglück, und wehren kann man sich gegen sie nur durch einen Besuch im Tempel und teure exorzistische Maßnahmen der Mönche. Sie können eine Gefahr für die Prostitution darstellen. Jede Bar hat ihre eigene Geschichte von einem Mädchen, das abgemacht hatte, die Nacht mit einem Freier zu verbringen, aber irgendwann flüchtete, weil der unwissende farang ein altes, heruntergekommenes Hotel gewählt hatte, das von diesen schmutzigen Geistern befallen war. Sogar Nong, sonst eher robuster als der Durchschnitt, wachte einmal auf, weil eine Erscheinung gierig an dem benutzten Kondom leckte, das der friedlich neben ihr schnarchende farang in seiner Faulheit liegengelassen hatte. Auch sie suchte das Weite und schwor sich, dieses Hotel nie wieder zu betreten. Ich schleudere meinem persönlichen Geist die Vier Edlen Wahrheiten in Pali entgegen, worauf er verschwindet und zusammen mit ihm der düstere graue Raum, der ihn umgibt. Ich stehe auf und öffne die Tür.
    Plötzlich sind Musik und Stimmen aus dem Club ohrenbetäubend laut. Mein Magen brennt höllisch, und der saure Geschmack in meinem Mund läßt Übelkeit in mir aufsteigen. Ich taste mich die Treppe hinunter und betrete die Bar.
    Es ist zwanzig Minuten nach Mitternacht; das große Spiel strebt seinem Höhepunkt zu. Schüchterne Männer, die den ganzen Abend nein gesagt haben, werden durch die Drinks und die pausenlose Aufmerksamkeit fast nackter junger Frauen schwach; plötzlich ist die Aussicht, allein ins Hotel zurückzukehren, abschreckender – und unmoralischer, praktisch ein Verbrechen gegen das Leben – als der Verkehr mit einer Prostituierten. Geschickt bauen die

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