Der Jadereiter
vor sich hin murmelnd im Schneidersitz in einer der dunklen Ecken.
Sie ist vermutlich die letzte Überlebende ihrer Generation in dem Dorf, in dem sie geboren wurde und aufgewachsen ist – wahrscheinlich irgendwo im Nordosten, nahe der laotischen Grenze, in einer Gegend, die wir Isan nennen –, und sie unterhält sich mit all jenen Verwandten und Freunden, die bereits auf die andere Seite gewechselt sind. Für sie sind sie genauso real, vielleicht sogar realer als die Lebenden. Sie muß das jeden Abend machen; zweifellos sehnt sie sich nach ihrer eigenen Befreiung aus einer Welt, die sie nie verstanden hat und auch nie verstehen wird. Ich hole den Schlüssel aus meiner Tasche und gehe, nachdem ich wieder zur Tür hinausgeschlüpft bin, die hölzerne Außentreppe zum oberen Stockwerk hoch, wo mich das einundzwanzigste Jahrhundert erwartet.
Der Computer läuft, aber der Bildschirm ist ausgeschaltet, genau, wie ich das Gerät verlassen habe. Als ich den Monitor aktiviere, erscheint darauf:
Danke, Detective, Gratulation, daß Sie vor uns hier waren. Tausend Dollar sind ein ganz schöner Batzen Geld, aber Uncle Sam wird das schon machen. Wir möchten, daß Sie Special Agent Kimberley Jones so schnell wie möglich kennenlernen. Grüße, Khun Rosen und Khun Nape.
Ich nicke angesichts solch huldvoller Töne von einer Supermacht und wühle mich in Bradleys Software. Anfangs sehe ich das verbindende Element nicht; die Interessen des Marine wirken eklektisch auf mich. Erst nach und nach erkenne ich überrascht die Struktur. Zusätzlich zu Webster’s Dictionary finde ich drei medizinische Wörterbücher, jedes ausführlicher als sein Vorgänger, als hätte Bradley mit der einfacheren Version begonnen und irgendwann gemerkt, daß er mehr Informationen brauchte. Ähnlich ist es bei den drei Programmen über die menschliche Anatomie, von denen das umfangreichste einen Speicherplatz von drei Gigabyte einnimmt. Darin entdecke ich verblüffende Graphiken, die jeden Aspekt des menschlichen Körpers demonstrieren, vom Skelett bis zur Muskulatur und allen Organen. Wie Bradley das Programm für seine persönlichen Bedürfnisse aufbereitet hat, macht klar, daß seine Lieblingsseite die eines Frauenkörpers ist. Ich gehe mit dem Cursor auf das linke Ohr, klicke es an und sehe sofort ein riesiges Technicolor-Ohr vor mir, dazu eine ausführliche Erklärung dieses Hörorgans am unteren Ende des Bildschirms sowie das Angebot, einzelne Details genauer zu betrachten. Ich blinzle die große löwenfarbene Gebirgskette des äußeren Ohrs an, das aufgeschnitten wurde, um den Blick auf ein schraffiertes Schläfenbein, ein Trommelfell in Wet-Look-Malve sowie eine schneckengleiche Cochlea in Kornblumenblau freizugeben.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, suche ich in dem Programm nach Bookmarks, finde mehrere und doppelklicke auf eines von ihnen. Auf dem Monitor erscheint eine bunte Brust. Der größte Teil ist sandfarben, vom feurigen Kern streben die vulkanischen Milchkanäle zur Spitze hoch. Eine Fußnote erklärt, daß das Ganze sich zwischen der zweiten und sechsten Rippe befindet. Ein dumpfes Geräusch dringt aus dem unteren Stockwerk herauf.
Ich schalte den Computer aus, lösche das Licht und trete hinaus auf den Flur. Die Schritte auf der Treppe sind so leise, daß ich sie nur wegen der beiden knarrenden Bohlen bemerke, die mir auf dem Weg herauf aufgefallen sind. Ich spüre den Menschen auf der anderen Seite eher, als daß ich ihn höre, und dann vernehme ich das unverwechselbare Spucken von Betelsaft.
Als ich die Tür aufreiße, stürzt die alte Frau herein und begräbt mich unter sich. Ich kicke sie weg, so daß sie über den gebohnerten Boden rutscht, während ich zur Seite rolle, um dem Hieb auszuweichen, und auf die Füße springe. Jetzt steckt ein Fleischbeil im Boden. Sein Besitzer mit dem schwarzen, getönten Motorradhelm zieht ein Messer aus seiner ebenfalls schwarzen Kluft. Offenbar behindert ihn das getönte Visier; als er es hochklappt, sehe ich dahinter ein mir unbekanntes thailändisches Gesicht.
Es gelingt mir, mich aufzurichten, obwohl er mich mit dem Rücken gegen die Wand neben der Tür drückt. Ich sehe, daß der hintere Teil des Messers gezackt ist, damit beim Herausziehen aus dem Fleisch kein häßlich schmatzendes Geräusch entsteht. Zur Spitze hin, die das Licht reflektiert, ist es elegant geschwungen. Alles in allem hat es eine Länge von etwa dreißig Zentimetern. Meine Alternativen sind klar: Wenn
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