Der Jäger
kastanienbraunen Haare umrahmten das markante Gesicht mit den großen dunklen Augen und dem vollen, sinnlichen Mund, als wäre es ein kostbares Gemälde. Sie ging zielsicher auf das Zimmer zu, die Tür war nur angelehnt. Professor Alfred Richter, ein bis weit über die Grenzen Deutschlands hinaus anerkannter Psychoanalytiker und -therapeut, kam hinter seinem Tisch hervor, lächelte und reichte Viola Kleiber die Hand. Er war etwa einen halben Kopf größer als sie, sein fülliges graues Haar war wie immer gut frisiert, seine eisblauen Augen blitzten kurz auf.
»Hallo, Frau Kleiber«, sagte er mit angenehm tiefer Stimme, »bitte, nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Kaffee, Tee, Saft?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein danke, ich möchte jetzt nichts.«
»Gut«, sagte Richter und setzte sich in den braunen Ledersessel seitlich neben ihr, nahm seinen Block und einen Stift und schlug die Beine übereinander. Es war warm, Viola Kleiber zog ihren Blazer aus und legte ihn über die Schenkel. Sie hatte lange,schmale Finger, die sie einmal in der Woche von einer Maniküre pflegen ließ. Der Duft von Chanel No. 19 erfüllte bald den ganzen Raum, in dem ein wuchtiger Schreibtisch stand, eine Büchereckwand, die bis unter die Decke reichte, aber am meisten Platz nahm das Fenster ein, das fast die gesamte Breite des Zimmers ausfüllte und von dem aus man einen herrlichen Blick in den ausgedehnten Garten mit dem Swimming-Pool hatte. An die Rasenfläche grenzten einige von geübter Hand gepflegte Büsche und Sträucher und eine übermannshohe Hecke. Ein Bergahorn, zwei Birken und zwei Erlen standen in geordneter Reihe am Rand des Grundstücks; sie hatten fast alle ihre Blätter bereits verloren.
»Sie wollen sicherlich wissen, wie es mir geht«, sagte Viola Kleiber nach einer kurzen Pause und betrachtete ihre Finger mit den blau lackierten Nägeln. Sie drehte den Ehering, den Blick nach unten gerichtet. »Es geht.« Sie schaute auf, als würde sie nach einer Reaktion in Richters Gesicht suchen.
Er zog nur leicht die Stirn in Falten, erwiderte ihren Blick und sagte: »Was heißt das konkret?«
»Das heißt konkret, dass sich nichts verändert hat. Ich lebe und lebe und lebe, aber ich weiß nicht, warum. Ich setze mich ins Auto und fahre einfach in der Gegend herum, setze mich in ein Café oder ein Restaurant, ich rauche viel zu viel, und ich nehme zu viel Valium. Hab ich etwas vergessen?«, fragte sie mit leicht spöttischem Unterton.
Richter kannte die Geschichte bereits, sie hatte sie ihm schon zigmal erzählt. »Was ist mit Alkohol?«
»Ach ja, der liebe Cognac. Valium und Cognac können eine phantastische Mischung sein, wenn man schlafen will.«
»Und wenn Sie nicht schlafen wollen?«
»Dann gehe ich weg. Irgendwohin.«
»Und wohin?«
»Hier und dort.«
»Und was sagt Ihr Mann dazu?«
Sie lachte kurz und trocken auf und schüttelte den Kopf. »Was sagt mein Mann? Nichts, er lässt mir meine Freiheit, ich ihm seine. Wir haben, was das angeht, eine stille Abmachung getroffen.«
Richter notierte sich etwas und presste für Sekundenbruchteile die Lippen zusammen. Viola Kleiber gehörte nicht zu den Patientinnen, die viel redeten, meist musste er ihr jedes Wort aus der Nase ziehen, aber diesmal war es anders. Es war die zwölfte Sitzung mit ihr, doch noch in keiner hatte sie am Anfang so viel gesagt wie diesmal. Er war auf den weiteren Verlauf gespannt.
»Eine stille Abmachung? Wie sieht die aus?«
Sie zuckte die Schultern, verzog die Mundwinkel und sagte schließlich mit einem undefinierbaren Lächeln: »Er arbeitet viel, und ich bin viel zu Hause. Das heißt, eigentlich sollte ich viel zu Hause sein, aber ich habe keine Lust dazu. Ich habe keine Lust, mein Leben wie in einem goldenen Käfig zu verbringen. Ich bin vielleicht ein Vogel, aber Vögel wollen frei sein. Sie wollen fliegen, wohin der Wind sie trägt.«
»Und wohin hat der Wind Sie zuletzt getragen?«, fragte er lächelnd.
»Das, lieber Herr Professor, bleibt mein kleines Geheimnis«, erwiderte sie ebenfalls lächelnd.
Es entstand eine Pause, während der keiner ein Wort sprach. Viola Kleiber stand auf, hängte den Blazer über den Sessel, stellte sich ans Fenster, sah hinaus in den Garten. Das Wasser war aus dem Swimming-Pool abgelassen worden, die Kacheln blitzten in der Sonne. Der Rasen war noch nass vom vielen Regen der vergangenen Tage, und dort, wo der Rasen endete, bedeckte von den Bäumen abgeworfenes Laub den Boden.
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