Der Jäger
Lippen rutschte von der Fensterbank und strich ihren Rock gerade. »Tja, dann sollten wir dem allen ein Ende bereiten.«
»Einen Augenblick, nicht so schnell. Geben Sie mir doch wenigstens einen Ansatzpunkt. Einen Grund wird es doch haben, weshalb Sie ausgerechnet mich ausgesucht haben, oder?«
»Sicher gibt es den.« Sie bewegte sich auf Richter zu, blieb vor ihm stehen, blickte auf ihn hinab. »Es gibt einen Grund, einen sehr triftigen sogar. Was glauben Sie denn, könnte dieser Grund sein?«, fragte sie und setzte sich wieder in ihren Sessel.
»Ihre Ehe?«
»Ja und nein. Aber Sie sind schon auf der richtigen Spur.«
»Angst?«
Sie lachte erneut auf, warm und kehlig. Sprach sie so, klang ihre Stimme warm, wenn sie nicht gerade spöttisch aufblitzten, hatten ihre Augen etwas Warmes, überhaupt strahlte sie trotz aller Distanziertheit eine gewisse Wärme aus.
»Angst?« Sie zuckte scheinbar gelangweilt die Schultern und schüttelte den Kopf. »Nicht mehr und nicht weniger als jeder andere auch.«
»Aber als Sie zu mir gekommen sind, haben Sie gesagt, Sie würden unter Angstzuständen und Depressionen leiden. Stimmt das denn nicht mehr?«
Sie holte tief Luft. Aus dem Augenwinkel betrachtete Richter sie, was ihr nicht verborgen blieb. Sie tat, als würde sie es nicht merken, registrierte es aber innerlich amüsiert, wusste sie doch um den Ruf, der Richter vorauseilte, dass er schöne Frauen noch nie verschmäht hatte. Jeder, der ihn kannte, wusste das, selbst seine Frau Susanne, die knapp halb so alt war wie er, die aber mit den gleichen Waffen zurückschlug, indem sie sich ständig mit jungen Liebhabern vergnügte. Doch sie war genau das, was Richter gewollt hatte, eine junge, attraktive Frau, mit der er in der Öffentlichkeit protzen konnte. Und sie genoss im Gegenzug den materiellen Wohlstand. Erst am vergangenen Dienstag war er wieder einmal in einer Talkshow aufgetreten, mit Susanne an seiner Seite. Er genoss die Bewunderung, die ihm von allen Seiten zuteil wurde, und er genoss den Neid der andern Männer und sonnte sich in dem Gefühl, etwas zu besitzen, das andere gerne gehabt hätten. Und Viola Kleiber war sich durchaus bewusst, dass Richter sie nur zu gerne in seinem Bett gehabt hätte, aber diesen Gefallen wollte und würde sie ihm nicht tun. Er war ein gut aussehender Mann, ausgesprochen attraktiv für sein Alter, aber sie hasste es, eine unter vielen zu sein. Sie war sicher, er führte Buch über seine Eroberungen, nur, da wäre kein Eintrag über sie.
»Es gibt Tage, da fühle ich mich hundsmiserabel. Wie ausgekotzt. Ich stehe auf und frage mich, was dieses Leben eigentlich soll. Warum lebe ich, und vor allem, wofür? Was tue ich hier? Wo ist die Herausforderung, die mein Leben spannend macht? Das sind Tage, an denen ich das Gefühl habe, in ein unendlich tiefes schwarzes Loch zu fallen. Ich falle und falle und falle.« Sie hielt inne und fragte: »Kann ich jetzt bitte doch etwas zu trinken haben? Einen Cognac vielleicht?«
»Natürlich. Einen Moment bitte.« Richter erhob sich, öffnete die Tür des Getränkeschranks, dachte kurz: Habe ich mich doch getäuscht?, holte eine Flasche Cognac heraus und zwei Gläser. Erschenkte ein, reichte Viola Kleiber ein Glas. Sie trank es in einem Zug leer, behielt das Glas in der Hand, drehte es zwischen den Fingern.
»Am Wochenende bin ich wieder in dieses schwarze Loch gefallen. Tiefer und immer tiefer. Mein Mann war zu Hause und doch nicht zu Hause. Er war körperlich anwesend, aber geistig in seinen neuen Roman vertieft, so vertieft, dass er alles um sich herum vergisst. Und ich war allein. Allein in diesem verflucht großen Haus. Was ist der Sinn meines Lebens? Können Sie mir das sagen?«
»Sprechen Sie weiter.«
»Ich bin unzufrieden, unzufrieden auf der ganzen Linie. Ich weiß nicht, ob es mit meinem Mann zusammenhängt oder ob ich selbst daran schuld bin. Manchmal nehme ich mir etwas vor, ich stecke mir ein Ziel, doch ich tue nichts, um es zu erreichen. Ich denke wohl, es müsste alles von allein passieren. Vielleicht denke ich auch, ich könnte ein Ziel erreichen, ohne einen Schritt zu gehen. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.«
»Das ist doch wenigstens mal ein Ansatz …«
»Vielleicht. Vielleicht gibt es aber auch noch andere Gründe für diese Sitzungen«, unterbrach sie ihn schnell. Sie schaute auf die Uhr, kurz nach halb zwölf, und sagte: »Oh, es tut mir Leid, aber ich muss heute früher gehen. Ich habe noch eine Verabredung, die ich
Weitere Kostenlose Bücher