Der Jäger
eine oder andere Problem unbewältigt in irgendeine Schublade gelegt hatte, doch er glaubte bei ihr nicht so recht an so genannte neurotische Depressionen, die von einem möglicherweise traumatischen Erlebnis aus der Kindheit oder der Pubertät hätten herrühren können, auch wenn er gerne etwas über ihre Vergangenheit erfahren hätte. Aber bis jetzt hatte sie die Vergangenheit vor ihm verborgen, versiegelt wie ein kostbares Buch oder ein Buch, in das zu sehen sie selbst sich nicht traute.
Sein Buch war, sehr zu seiner Freude, zu einem Verkaufsschlager geworden, und er war gerade dabei, ein neues zu schreiben. Nein, Viola Kleiber litt nicht unter Depressionen, höchstens dann und wann unter Melancholie oder einer leicht depressiven Verstimmung, nur war er auch da sicher, sie könnte diese Zustände nach Belieben kontrollieren. Wenn sie melancholisch sein wollte, dann war sie melancholisch, und wenn es ihr zu viel wurde, schaltete sie die Melancholie einfach aus. Wie das Licht, indem sie einen Schalter betätigte.
Und er glaubte auch nicht an die Geschichte mit dem Valium und dem Cognac, eine Frau wie sie schluckte weder tonnenweise Tabletten, noch wirkte sie wie eine Alkoholikerin. Ihr Blick war klar, die Worte kamen weder stockend noch gelallt über ihre Lippen. Er hatte auch noch nie eine Alkoholfahne bei ihr bemerkt oder andere Auffälligkeiten, die den typischen Alkoholiker ausmachten, Zittrigkeit, Fahrigkeit, Vergesslichkeit. Sie war die personifizierte Selbstbeherrschung. Und doch musste es einen Grund geben, weshalb sie zu ihm kam. Einmal in der Woche für jeweils eine volle Stunde. Darum hatte sie gebeten. Und weil es ihr nichts ausmachte, für eine Stunde achthundert Mark zu bezahlen, hatte er zugestimmt, auch wenn die achthundert Mark fürihn kaum mehr als ein Trinkgeld waren, denn er suchte sich seine Patienten seit einigen Jahren nur nach sehr sorgfältiger Prüfung aus, und erst wenn er überzeugt war, es mit einem besonders interessanten Fall zu tun zu haben, nahm er sich dessen an.
Bei ihr jedoch war es weniger der Fall, der ihn interessierte, es war die Frau, die seine Aufmerksamkeit schon seit ihrer ersten, zufälligen Begegnung vor mehr als zwei Jahren erregt hatte. Sein Hauptaufgabengebiet beschränkte sich seit einigen Jahren auf psychologische Seminare, die er auf der ganzen Welt durchführte, auf das Schreiben von Fachbüchern und Artikeln in Fachmagazinen und, wie zuletzt, das Verfassen eines für jedermann verständlichen Sachbuchs. Und außerdem beschäftigte er sich seit fast acht Jahren mit Kriminalpsychologie, ein Gebiet, das ihn seit jeher interessiert hatte und das ihn mehr und mehr reizte. Besonders faszinierte ihn die Geschichte und Persönlichkeit von Gewaltverbrechern, insbesondere Serienmördern, wie sie ihre Taten ausführten, was sie bewegte, gerade jene Tat zu begehen, woher sie stammten, was für eine Erziehung sie genossen hatten, eigentlich ihre ganze Lebensgeschichte. Nachdem er einige Male auf der Polizeihochschule als Dozent aufgetreten war, war er danach verschiedentlich von der Kripo Frankfurt bei besonders heiklen Fällen als Profiler zu Rate gezogen worden, und fünfmal war es ihm geglückt, ein derart exaktes Täterprofil zu erstellen, dass es den Beamten gelang, den jeweiligen Täter recht schnell einzukreisen und dingfest zu machen.
Er war gebeten worden, einen Artikel über diesen Bereich der Psychologie in allgemein verständlicher Form für ein anspruchsvolles Magazin zu verfassen, und irgendwann, wenn er genügend Material gesammelt hatte, würde er ein Buch über dieses Thema schreiben, das auch in der Öffentlichkeit auf zunehmendes Interesse stieß.
»Sie kommen jetzt seit zwölf Wochen zu mir«, meinte er schließlich und sah sie an, »aber ich weiß von Ihnen auch jetzt kaummehr als nach der ersten Stunde. Warum sagen Sie mir nicht, was Sie bedrückt? Haben Sie kein Vertrauen zu mir? Sie wissen doch, es gibt eine Schweigepflicht, an die ich mich zu halten habe. Nichts von dem, was in diesem Raum zwischen uns gesprochen wird, dringt nach außen.«
Sie lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. »Es hat nichts damit zu tun, dass ich Ihnen nicht vertraue. Keine Sorge, ich weiß, wem ich vertrauen kann und wem nicht. Ich vertraue Ihnen. Aber ich dachte, ein Mann wie Sie, eine Kapazität, vor der sich die Welt verneigt, wäre in der Lage herauszufinden, weshalb ich Sie ausgewählt habe. Ich scheine mich da wohl getäuscht zu haben.« Sie schürzte die
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