Der Jäger
Brustwarzen abgebissen, und was hat es mit der Nadel auf sich? Hat sie den Täter gekannt? War es ein Freund oder ein guter Bekannter, und war sie im guten Glauben, bei ihm sicher zu sein, mit ihm gegangen? Oder wurde sie verschleppt? Aber warum wurde sie, genau wie Weidmann und Albertz, nicht sexuell missbraucht? Welche Gründe gibt es dafür? Und besteht da vielleicht doch eine Verbindung zwischen den Frauen? Eine, die möglicherweise so offensichtlich ist, dass wir sie bis jetzt gar nicht gesehen haben, eben weil sie so offensichtlich ist? Es ist wie mit dem Wald, den man vor lauter Bäumen nicht sieht.«
Hellmer überlegte, fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Lippen und sagte: »Vielleicht ist er impotent.«
»Und weiter?«
»Er wurde wegen seiner Impotenz gedemütigt und rächt sich jetzt dafür. Solche Fälle gab’s schon.«
»Und warum an Erika Müller? Sie war verheiratet, sie hatte zwei Kinder und, wie es aussieht, keine außerehelichen Affären. Außerdem gehört sie nicht unbedingt zu den Frauen, auf die die Männer reihenweise fliegen. Sie ist ein Durchschnittstyp, hat ein Durchschnittsgesicht, ist leicht übergewichtig. Genauso durchschnittlich wie Juliane Albertz.«
»Aber die Weidmann war alles andere als durchschnittlich«, warf Hellmer ein.
»Das ist es ja. Albertz und Müller unauffällig, Weidmann sehr hübsch, zugegeben. Äußerlich keine Ähnlichkeiten, weder gleiche Haarfarbe noch gleiche Größe, noch irgendwelche anderen Gemeinsamkeiten, soweit ich mich erinnern kann. Ich brauch noch mal die Akten vom letzten Jahr.«
»Es sind aber meist die Durchschnittstypen, die zum Opfer werden. Die Unauffälligen. Er hat sie in sein Auto gezerrt und an irgendeinem gottverlassenen Ort seine Wut an ihr ausgelassen. Die Opfer von Sexualverbrechern kennen in der Regel den Täter überhaupt nicht. Sie sind weder bekannt noch verwandt miteinander, die meisten Verbrechen dieser Art geschehen sozusagen rein zufällig. Weil eben zufällig eine Frau – nennen wir sie Erika Müller – zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort ist, an dem sich auch der Täter aufhält, der just in diesem Augenblick die Gelegenheit beim Schopf ergreift und seinem Trieb freien Lauf lässt. Nur ganz selten kennen Täter und Opfer sich vorher. Oft werden sie einfach wahllos ausgesucht, wenn der Hass am größten ist. Worin auch immer dieser Hass bestehen mag.«
»Und wie oft haben wir innerhalb von zwei Tagen zwei Vermisstenmeldungen von zum Teil noch recht jungen Frauen?«, fragte Julia Durant sarkastisch. »Und wie oft geschehen Morde, in denen Frauen eine Nadel durch die Schamlippen gestochen wird? Wie oft werden Frauen vorher körperlich so grausam misshandelt, und wie oft werden ihnen die Brustwarzen abgebissen? Undsind die Albertz und die Weidmann ihm auch rein zufällig über den Weg gelaufen?! Sag mir, du großer Analytiker, wie oft passieren solche Zufälle? Die Nadel ist der Schlüssel. Und die Frauen haben etwas mit dem Täter zu tun. Nur was? Und die Kassner …«
»Jetzt mal nicht gleich den Teufel an die Wand. Es kann durchaus ein Zufall sein, ich meine, das mit dieser Kassner. Sie ist erst fünfundzwanzig …«
»Und die andere wäre nächste Woche sechsunddreißig geworden. Albertz war dreißig, Weidmann knapp dreiundzwanzig. Aus dem pubertären Stadium, wo man nur mal so einfach für eine Weile abhaut, waren oder sind die längst raus. Das sind keine Mädchen mehr, das sind Frauen, erwachsene Frauen. Wo ist die verdammte Vermisstenmeldung?«, fragte sie gereizt.
»Liegt schon auf dem Tisch«, sagte Berger ruhig. »Sie ist gekommen, während Sie sich mit dem Autopsiebericht abgegeben haben. Hier, bitte.«
»Judith Kassner. Geboren am 23.10.74 in Frankfurt. Heute Vormittag von ihrer Wohnungsgenossin Camilla Faun als vermisst gemeldet. Einssiebenundsechzig groß, schlank, brünett, schulterlanges Haar, grüne Augen, sonst keine Auffälligkeiten. Studiert Mathe und Physik im siebten Semester, wohnhaft Gräfstraße. Mutter zurzeit nicht erreichbar, Vater unbekannt.« Sie hielt weiter das Blatt zwischen den Fingern, schloss für einen Moment die Augen und legte den Kopf in den Nacken, als würde sie nachdenken. Schließlich sagte sie in die Stille hinein: »Die nächsten Tage oder Wochen oder gar Monate werden ein verdammt hartes Stück Arbeit für jeden von uns. Es sei denn, es geschieht ein Wunder, aber Wunder geschehen in der Regel anderen und nicht uns.« Sie hielt kurz inne und fuhr sich mit
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