Der Jäger
gelebt haben?«
»Unter Umständen schon. Die genaue Todeszeit kann ich nur im Institut bestimmen. Die Bedingungen hier sind nicht gerade ideal. Aber über den Daumen gepeilt wurde sie so gegen Mitternacht plus minus eine Stunde getötet. Vermutlich wurde sie jedoch erst vor anderthalb oder zwei Stunden hier abgelegt, ihre Temperatur ist für diese Verhältnisse noch relativ hoch. Aber die Leichenflecken sind schon ausgebildet.«
»Tun Sie mir einen Gefallen – schauen Sie doch mal nach, ob Sie in ihrem Blut irgendwas nachweisen können. Ein Betäubungsmittel zum Beispiel. Und stellen Sie außerdem fest, ob sie noch Jungfrau war.«
»Öfter mal was Neues, was? Gibt’s dafür einen Grund?«, fragte Morbs und packte seine Tasche zusammen.
»Nur eine Vermutung. Die Dessous passen nicht zu ihr. Sie hätte so was nicht angezogen. Ich bin sicher, die hat jemand für sie besorgt, und zwar schon lange, bevor sie tot war. Das sind nicht ihre eigenen.«
»Ihr Wunsch ist mir Befehl«, sagte Morbs und gab den Gnadenlosen, wie sie scherzhaft genannt wurden, das Zeichen, die tote Maria van Dyck in die Gerichtsmedizin zu bringen.
»Frank, kommst du mal«, rief Durant ihm zu. »Lass uns kurz da hinten hingehen. Muss nicht jeder mithören.« Sie holte tief Luft. »Ich hab’s gerade eben schon zu Morbs gesagt, die Dessous sind meiner Meinung nach nicht ihre eigenen. Eine junge Frau, die unter schweren Angstzuständen leidet, fängt nicht auf einmal an, sich solche Sachen anzuziehen. Diese Laszivität würde überhaupt nicht zu ihr passen. Nicht nach dem, was uns ihr Vater übersie erzählt hat. Eine wie sie trägt Jeans und ganz normale Unterwäsche. Ich denke mal, mit diesem Mord hat sich der Täter seine eigene Grube gegraben. Wir kriegen ihn, da bin ich sicher. Aber jetzt fahren wir beide zu den van Dycks. Die Sache will ich nicht allein durchziehen.«
Allmählich gingen die ersten Rollläden hoch, Lichter wurden angemacht, Fenster wurden geöffnet, neugierige Köpfe beobachteten das gespenstische Treiben. Der Verkehr nahm zu, LKWs donnerten über die nur wenige Meter entfernte Eschersheimer Landstraße. Durant und Hellmer waren auf dem Weg zu ihrem Wagen, als die Kommissarin plötzlich stehen blieb.
»Hier, schau dir das an! Hier kann man ungehindert mit dem Auto reinfahren. Das heißt, derjenige konnte direkt bis unter die Tannen fahren! Er hat den Kofferraum aufgemacht, sie rausgeholt und hingelegt. Vermutlich hat er sogar eine ganze Weile hier auf der Straße geparkt und gewartet, bis alles ruhig war. Und es gibt nicht mal Reifenspuren, weil die Wege gepflastert sind. Der denkt wirklich an alles.«
Freitag, 6.45 Uhr
Der Morgen dämmerte bereits, die Sterne wurden einer nach dem andern vom Tageslicht ausgeknipst, als sie sich auf den Weg machten. Bei den van Dycks angekommen, sahen sie, dass das Haus hell erleuchtet war. Das Tor stand offen, als würden Marias Eltern hoffen, ihre Tochter würde einfach vor das Haus gefahren kommen, sie anlachen und sich alles wie ein böser Albtraum in Luft auflösen.
»Tief durchatmen, Julia«, sagte sie leise zu sich selbst, als sie ausstiegen.
»Wer sagt’s ihnen?«, fragte Hellmer, nachdem er die Fahrertür zugeschlagen hatte.
»Wir können ja knobeln. Ich überlass dir gerne den Vortritt.«
»Aber du hast mit van Dyck gesprochen. Ich meine, ich will …«
Julia Durant winkte ab. »Schon gut, ich bin’s ja inzwischen gewohnt.«
Sie gingen die drei Stufen nach oben, die Haustür war unverschlossen. Van Dyck schien gehört zu haben, wie sie hereingefahren waren. Er öffnete die Tür, seine Augen waren klein, er hatte nicht geschlafen. Sein fragender Blick drückte alle Angst und Besorgnis dieser Welt aus.
»Herr van Dyck, dürfen wir reinkommen?«, sagte Julia Durant und versuchte sich so wenig wie möglich ihre Gefühle anmerken zu lassen. Ihre Wut, ihren Hass auf dieses verdammte Individuum, dieses elende Stück Dreck, ihre Ohnmacht, ihre Trauer, ihre Verzweiflung.
»Haben Sie irgendwas rausgefunden?«
Diese Frage von van Dyck hatte die Kommissarin schon einige Male in den vergangenen Jahren gehört, wenn die Angehörigen sich nicht trauten, die Frage direkter zu stellen. Und dennoch beinhaltete sie alles, was sie wissen wollten und nicht zu fragen wagten.
Haben Sie sie gefunden? Ist sie tot? Lebt sie noch? Wo ist sie? Ist ihr irgendwas passiert?
Diese Fragen wurden nur in den seltensten Fällen gestellt, weil auf jede von ihnen eine konkrete Antwort folgen
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