Der Jäger
sieben?«
»Wir richten uns ganz nach dir. Wir haben doch immer nette Abende miteinander verbracht.«
»Ich mach mich jetzt auf den Weg. Und grüß Nadine von mir. Und denk an mich, wenn ich gleich zu Frau Faun fahre. Es ist das Beschissensteüberhaupt an diesem Job. Aber es lässt sich nicht vermeiden, irgendwer muss es ihr ja sagen. Ciao und bis morgen.«
Montag 19.20 Uhr
Bockenheim, Gräfstraße. Dunkelheit hatte sich über die Stadt gelegt, ein böiger Ostwind war aufgekommen, der Himmel war sternenklar, als Julia Durant ihren Corsa vor dem Haus abstellte. Auf der Fahrt vom Präsidium hierher hatte sie eine Gauloise geraucht, jetzt zündete sie sich eine weitere an. Sie stieg aus, laute Musik drang aus einem Bistro. Sie fühlte ein leichtes Rumoren im Magen, ob vom Hunger – sie hatte seit dem Mittag nichts mehr gegessen – oder aus Angst vor dem Moment, in dem sie Camilla Faun gegenüberstehen würde, wusste sie nicht. Sie spürte den kräftigen Herzschlag in ihrer Brust, das leichte Pochen in den Schläfen, während sie zur Haustür ging. Sie klingelte, der Türsummer ertönte leise, sie drückte die Tür auf und betätigte den Lichtschalter. Mit langsamen Schritten bewegte sie sich die alten, ausgetretenen Holzstufen nach oben und legte sich Worte zurecht, die sie am Ende doch nicht sagen würde, denn die Reaktion der Hinterbliebenen, der Freunde oder Bekannten war nie vorauszusehen. Camilla Faun stand in der Tür. Julia Durant hatte erneut das Gefühl, als würde sie sie anschauen.
»Guten Abend, Frau Faun«, sagte sie.
»Sie sind es«, erwiderte die junge Frau, »kommen Sie doch rein. Und, haben Sie etwas von Judith gehört?«, fragte sie und schloss die Tür.
»Ja, aber ich möchte das gerne im Wohnzimmer mit Ihnen besprechen.«
»Was ist passiert?«
»Setzen wir uns doch.«
Camilla Faun nahm in ihrem Sessel Platz und zündete sich eineZigarette an. Sie machte einen nervösen, angespannten Eindruck, als würde sie ahnen, was als Nächstes folgen würde.
»Frau Faun, es ist für mich nie leicht, eine solche Nachricht zu überbringen, aber ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Frau Kassner einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist.«
Camilla Faun sagte im ersten Moment überhaupt nichts, sie rauchte, blies den Rauch durch die Nase wieder aus, pulte mit dem rechten Zeigefinger an ihrem Daumen.
»Judith«, sagte sie schließlich leise, und ein paar Tränen lösten sich aus ihren Augen. »Judith ist also tot. Warum sie?«
»Wir wissen es nicht.«
»Und wo haben Sie sie gefunden?«, fragte sie mit stockender Stimme weiter.
Julia Durant holte tief Luft, schloss kurz die Augen, bevor sie sagte: »In einer Wohnung in Niederrad.«
»In einer Wohnung?«
»Ja, eine Wohnung, die offensichtlich ihr gehörte. Zumindest war ihr Namensschild an der Tür.«
»Sie hat nie etwas von einer anderen Wohnung erwähnt. Ich verstehe das alles nicht.«
»Frau Faun, wir verstehen das genauso wenig wie Sie. Sind Sie stark genug, noch mehr zu hören?«
Camilla Faun nickte nur und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Ihre Freundin hat offensichtlich ein Doppelleben geführt. Sie kannten nur das eine, sie kannten die Studentin Judith Kassner, die freundliche, liebenswürdige, strebsame junge Frau. Aber Sie kannten nicht das andere Leben, das es ihr erlaubte, sich Kleider von Chanel und Dior zu kaufen und sündhaft teuren Schmuck. In diesem Ihnen unbekannten Leben war sie eine Prostituierte. Wir haben heute Mittag in ihrem Computer über hundert Telefonnummern gefunden und wissen inzwischen, dass es sich dabei um Freier von ihr handelte …«
»Judith war eine …? Nein, das kann ich nicht glauben. Prostituierte sind doch ganz anders …«
»Sie hat nicht in einem Bordell gearbeitet. Sie hatte eine sehr schöne Wohnung, und wie wir inzwischen wissen, hat sie nicht nur dort ihre, sagen wir, Klienten empfangen, sie hat auch Hausund Hotelbesuche gemacht. Es tut mir Leid, Ihnen das so sagen zu müssen, aber Sie haben nur die Studentin Judith Kassner gekannt.«
Camilla Faun rauchte hastig, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und zündete sich gleich eine neue an. Sie wippte vor und zurück und schwieg sekundenlang. Schließlich sagte sie: »Dann war das mit ihrer Mutter wahrscheinlich alles gelogen. Aber warum hat sie das gemacht? Sie hätte doch diese Wohnung hier überhaupt nicht gebraucht!«
»Doch, Frau Faun, sie hat diese Wohnung gebraucht. Hier wohnte sie, in der andern ging sie ihrem
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