Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
hob Raimund noch einmal seine Stimme. Er sprach zum Fenster hinaus, als ob das, was er sagte, gefährlich sei und er es nicht innerhalb seiner eigenen Wände haben wollte.
»Dieses Konzil zu Lyon«, sagte er, »wird nicht das Ergebnis bringen, auf das alle hoffen. Der Kaiser hat sich in allen Fragen, in denen er und Papst Innozenz sich bekämpfen, unterworfen. Viele sagen, er hat es aus Müdigkeit getan, etliche, weil ihm der Friede mittlerweile als das höchste Gut erscheine, und ein paar sagen auch, es sei reine Taktik, um den Papst ins Unrecht zu setzen. Jedenfalls sieht esso aus, als bliebe Innozenz nichts anderes übrig, als den Bann über dem Kaiser aufzuheben und dies auf dem Konzil zu verkünden. Das ist es, was alle erwarten. Das ist nicht, was ich erwarte.«
»Was erwartet Ihr denn?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß wir an der Schwelle zu schlimmeren Zeiten stehen, als wir sie bisher erlebt haben. Der Papst hat sich mit dem Konzilsaufruf in Zugzwang gebracht. Er muß etwas tun. Wenn er den Bann nicht löst, gibt es nur einen anderen Weg: Er setzt den Kaiser ab.«
»Er setzt ihn ab?« wiederholte Philipp.
»Und öffnet damit dem Chaos Tür und Tor; es sei denn, er hat etwas in der Hinterhand, mit dem er ein für allemal seinen Machtanspruch untermauern kann. Ansonsten wird er das Reich und damit die gesamte Christenheit in einen endlosen Bruderkrieg stürzen. Die Allianzen unter den Fürsten werden heute nur durch zwei Dinge zusammengehalten: die Päpstlichen eint der Haß auf den Kaiser, die Kaiserlichen der Haß auf den Papst. Wenn Innozenz den Päpstlichen ihren Fixpunkt wegnimmt, werden sie sich über kurz oder lang ihrer eigenen Zwiste erinnern und übereinander herfallen. Und die Kaiserlichen, denen er den Führer genommen hat, werden auf die einschlagen, die das überlebt haben.«
»Aber die Christenheit kann nicht ohne ihr Oberhaupt sein – noch dazu jetzt. Ich habe gehört, daß Bischof Otto von Freising geschrieben hat, das Jüngste Gericht sei bald zu erwarten. In ein paar Städten ist schon die Tanzwut ausgebrochen, wie damals in Judäa, bevor der Erlöser geboren wurde. Die Menschen glauben, der Anbruch einer neuen Zeit stehe bevor.«
»Ja«, sagte Raimund und nickte schwer. Sein Blick ging noch immer zum Fenster hinaus. »Und das Ende von allem, woran wir geglaubt haben.«
Während Philipp sich mit der Organisation des Abendmahls beschäftigte, trafen Raimunds Gefährten mit den Boten ein, die ihnen die Einladungen überbracht hatten. Einer der Boten war auf Thomas, den Kaplan des Gutes gestoßen, der sich auf dem Rückweg von einem der kleinen Weiler befand, auf denen sich kein eigener Priester aufhielt, und hatte ihn auf seinem Pferd zurücktransportiert. Philipp hatte keinerlei persönliche Beziehungen zu den Lehnsrittern seines Herrn, die ihn als dessen rechte Hand akzeptierten, es sich jedoch anmerken ließen, daß sie ihn für einen Gemeinen hielten. Mit dem Kaplan allerdings verband ihn eine gegenseitige Achtung, die nicht nur aus der Tatsache resultierte, daß Thomas und er die gleiche klösterliche Vergangenheit besaßen. Philipp fühlte sich von der konsequenten Ernsthaftigkeit angezogen, mit welcher der Kaplan seine Aufgaben erfüllte, während Thomas wiederum die scheinbare Leichtigkeit bewunderte, die Philipp ausstrahlte. Der Kaplan kam den Weg zum Palas hochgeritten, auf der Hinterhand des Pferdes auf und ab geworfen und sich mit einem schmerzlich verzogenen Gesicht am Wams seines Vordermannes festkrallend, während er zugleich versuchte, mit der anderen Hand die anstößige Nacktheit seiner Beine zu bedecken, die seine hochgerutschte Kutte freigab. Er ließ sich vom Pferd gleiten, schüttelte seine langen Gliedmaßen, fragte Philipp, welcher Ehre sie den Besuch eines Kardinals zu verdanken hätten, erhielt zur Antwort, dieser wäre auf der Suche nacheinem neuen Papst und daß der Kaplan eine reelle Chance gehabt hätte, wenn er nicht halbnackt in der Gegend herumgeritten wäre, und eilte lachend ins Haus, um den Besuch zu begrüßen.
Die Dämmerung brach bereits herein, als das Essen auf die neben dem Eingang zum Palas aufgebauten Tische und Bänke gestellt wurde: Wein, gebratene Fische mit gebackenem Obst, eine Handvoll Drosseln aus einem der Fangnetze, weißes Brot und klumpige Kuchen mit Rosinen. Es war ein einfaches Mahl, da es an der Zeit gefehlt hatte, Fleisch zu beschaffen, Teigwaren vorzubereiten oder auch nur einen Musikanten zu finden und auf das Gut
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