Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
kroch mit finsterem Gesicht über die Stufen nach unten. Sie warf Philipp einen kurzen Blick zu.
»Was ist mit Dionisia?« rief er. »Ist sie wieder erwacht?« »Halbwegs«, brummte die Alte. »Ich mache ihr was Heißes zu trinken.«
»Geht es ihr gut?«
Scheinbar war es eine törichte Frage; die Alte erwiderte nichts darauf, sondern betrat mit einem vorsichtigen ersten Schritt die Treppe zur Küche hinunter.
Philipp wandte sich ab. Sein Blick fiel auf die Tischplatte, auf deren Unterseite Radolf sein merkwürdiges Wappen gemalt hatte. Er zögerte. Den Tisch, an dem sie gegessenhatten und es wieder tun würden, zu einem zeitweiligen Totenbett zu machen, brachte er nicht über sich. Es blieb ihm nichts übrig, als Ernst unter den Armen hochzuheben und Radolf dazu zu überreden, seine Beine an dem kürzer gebundenen Strick zu packen. Mißmutig sah er aus dem Fenster. Der Regen fiel mit unverminderter Heftigkeit herab und verwischte den Wald hinter dem Hof zu einem einheitsgrauen Tuch. Wir werden triefen, bis wir ihn nur halbwegs zum Friedhof geschafft haben.
Radolf schien die Wartezeit auf der Treppe zu lang geworden zu sein. Er und der Leichnam waren verschwunden, als Philipp zurückkam. Philipp zerdrückte einen Fluch zwischen den Zähnen und hastete die letzten Stufen hinunter. Ernsts Arme verschwanden um die Ecke des donjons. Radolf stemmte sich in den Strick wie ein Zugochse und schleifte den Toten mühsam durch das hohe, nasse Gras zum Friedhof hinüber, eine breite Spur aus niedergedrückten Halmen hinterlassend. Der Regen fiel in Ernsts offene Augen. Philipp sprang an ihm vorbei und packte den Strick. Als er in Radolfs Gesicht sah, verschluckte er die Frage, warum er nicht auf ihn gewartet hatte; er war nicht mehr sicher, ob Radolf überhaupt verstanden hatte, daß er es hätte tun sollen. Er nahm den Strick auf die Schulter und half Radolf, Ernst durch den Regen zu ziehen.
Als sie die Gräber erreichten, war Philipp vom Regen ebenso naß wie von seinem Schweiß. Radolf schien noch ein kleines Stück Vernunft besessen zu haben, bevor er damit begonnen hatte, Ernst die Treppe hinunterzuschaffen: Er hatte einen Spaten zum Friedhof hinausgeschafft und in die Erde neben der Böschung gerammt. Er ließ den Strick sofort los, als sie den Spaten erreicht hatten, taumelte auf ihn zu und zerrte ihn aus der nassen Erde.
»Wartet doch wenigstens, bis wir wieder zu Atem gekommen sind«, keuchte Philipp. Radolf achtete nicht auf ihn. Er stieß den Spaten in die Erde und tat den ersten Schnitt durch das hohe Gras und die zähen Wurzeln. Die Adern an seinem Hals traten hervor, als er versuchte, das Stück Erde herauszuhebeln. Der Spatenstiel knarrte bedenklich. Ungeduldig zog Radolf den Spaten zurück, trieb ihn zwei Handbreit vor dem ersten Schnitt erneut in den Boden und stemmte sich wieder ein. Schweiß und Regen hatten die tiefen Kratzer in seinem Nacken reingewaschen. Vor Anstrengung begann nun wieder Blut hervorzusickern. Radolf ächzte laut, und ein Kloben Erde löste sich schmatzend aus dem Boden und klebte am Spaten. Radolf schüttelte ihn ab und stieß das Blatt zum drittenmal in den Boden.
»Radolf«, sagte Philipp eindringlich. »Ihr bringt Euch noch selbst um.«
»Keine ... Zeit ...«, stieß der Burgherr hervor. »Keine ... Zeit!«
»Habt Ihr noch einen zweiten Spaten? Ich helfe Euch graben.«
Radolf schüttelte verbissen den Kopf und schleuderte den zweiten Batzen Erde von sich. Philipp trat einen Schritt zurück. Radolfs Gesicht glich mittlerweile der Maske eines Gauklers, mit brennenden Flecken auf seiner fahlen Haut und dumpfblauen Lippen, auf denen vor Anstrengung schaumiger Speichel stand. Er stieß den Spaten mit solcher Geschwindigkeit und Verbissenheit in die schwere Erde, daß er es nicht lange würde durchhalten können. Sein Atem ging bereits pfeifend. Ernst lag wenige Schritte entfernt davon auf dem Rücken im hohen Gras, sein Lederwams dunkel vor Nässe und sein Gesicht nicht viel blasserals dasjenige des Mannes, der ihn getötet hatte. Er schien größer denn je zu sein, wenn man ihn mit dem Loch verglich, das Radolf bereits gegraben hatte und das ihn zuletzt aufnehmen sollte.
Philipp wies zu der Stelle hinüber, an der Radolf den Brunnen hatte graben wollen. »Warum schaufelt Ihr nicht da drüben, wo bereits ein Loch war? Die Erde ist dort viel lockerer. Hier gibt es außerdem Baumwurzeln und jede Menge Gras.«
Radolf blickte nicht auf, aber er schaufelte noch eine Spur verbissener
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