Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
nichts dergleichen geschah: Entweder wußte sie nicht, in welchem Verhältnis Radolf und Dionisia zueinander standen, oder es schien ihr keiner Bemerkung wert, daß er nur ihr Stiefvater war. Jedenfalls hatten sich die Bäckchen der alten Frau zornig gerötet, und als sie weitersprach, wurde Philipp klar, welche Aussage in dem Streit zwischen ihrem Herrn und seinem Gast ihren eigentlichen Zorn geweckt hatte: »Herr Radolf sagte, Herr Ernst solle ihm gefälligst erklären, was er damit meinte. Daß sie eine läufige Hündin ist, das meinte ich, sagte Herr Ernst. Aber scheinbar kannst du es ihr nicht mehr besorgen, so daß sie auf der Suche nach größeren Schwänzen ist ...« Sie preßte den Mund zusammen und schwieg wütend. Philipp wartete darauf, daß sie fortfuhr.
»Was sagte er dann?« fragte er zuletzt.
»Nichts mehr. Herr Radolf schlug ihn ins Gesicht, Herr Ernst stürzte sich auf ihn, und plötzlich fiel er zu Boden und begann zu husten und sich zu krümmen wie ein Fisch.« Sie schüttelte den Kopf. »Dionisia lief aus der Küche nach oben und begann zu schreien. Ich wußte schon, daß genau das passieren würde. Es hat sich ja lange genug angekündigt. Sie sprang Herrn Radolf an, und ich dachte schon, sie reißt ihm den Kopf ab. Er wehrte sie nur ab, ohne ihr weh zu tun. Sie umklammerte seinen Hals und schrie wie eine Wilde. Ich konnte überhaupt nichtstun. Ich meine, ich bin alt, und meine Hände tun mir höllisch weh; außerdem wußte ich, daß es nicht lang dauern würde. Sie ließ schließlich von ihm ab und brach zusammen, wie ich es erwartet hatte. Nur hörte sie diesmal nicht zu schreien auf. Schließlich hob er sie auf und trug sie in die Kammer. Ich folgte ihm hinauf, aber wenn sie in diesem Stadium ist, kann man nichts für sie tun. Herr Radolf band sie auf dem Lager fest, drängte mich hinaus und legte den Riegel vor die Tür.
Seitdem sitze ich hier. Wenn sie wieder erwacht, wird sie mich brauchen, und ich will sie hören, wenn sie nach mir ruft.«
»Woher wußtest du, was mit ihr geschehen würde? War sie schon öfter in einem solchen Zustand?«
»Hast du denn überhaupt nicht aufgepaßt? Wofür erzähle ich dir das alles eigentlich?« »Also lautet die Antwort ja.«
Die Alte zuckte mit den Schultern.
»Ist sie ... besessen?«
»Ja, besessen, freilich. So ein Unsinn. Ein Besessener sieht schon anders aus, das kannst du mir glauben.« Sie beugte sich zu ihm hinüber, um ihm ins Ohr zu flüstern: »Willst du mal einen Besessenen sehen? Geh runter und sieh dir den Herrn an.«
»Was fehlt Dionisia dann?«
»Es ist dieser Ort, dieser düstere, kalte, feuchte Kasten, in dem die Erinnerungen nicht von der Gegenwart zu unterscheiden sind und in dem man die Toten zu hören glaubt. Ich sage immer, sie braucht Menschen um sich herum und eine anderes Zuhause als dieses, aber wer hört schon auf mich.«
»Seit wann hat sie diese ... diese Zustände?«
»Seit sie mannbar wurde. Wenn der Herr nicht so um sie besorgt wäre, wäre es wahrscheinlich noch schlimmer. Als die Herrin gestorben war, fürchtete ich dauernd, er würde Dionisia zu seinem Weib nehmen. Er sah sie manchmal so seltsam an. Und als die Herrin noch lebte, war er ständig unter ihrem Rock. Ich meine, was hätte ich dagegen unternehmen sollen? Ich bin ein altes Weib, und auf mich hört niemand. Aber er versank nur in Trauer; er ging nicht mal hinaus ins Dorf und holte sich die Jungfrauen vor ihrer Heirat ins Bett, wie es sein Recht wäre; er tat es vor dem Tod der Herrin nicht und auch nachher nicht.« Sie verzog verdrossen das Gesicht. »Vielleicht hatte Herr Ernst ja recht damit, als er sagte, Herr Radolf würde seinen Mann nicht mehr stehen. Nur daß er es mit Dionisia in Bezug brachte, war unrecht. Jedenfalls hat sich der Herr stets um Dionisia bemüht wie so schnell kein zweiter Vater um seine Tochter.« Philipp sah sie an und überlegte lange, bevor er sagte: »Sie ist nicht seine Tochter.«
»Ach, das weißt du also doch? Ich dachte schon, du hast überhaupt keine Ahnung.«
»Was ist mit Dionisias richtigem Vater passiert?«
»Er ist auf der Wallfahrt ins Heilige Land gestorben. Mehr weiß ich nicht. Als Herr Radolf zurückkam, überbrachte er die Neuigkeit.«
»Als er zurückkam ?«
Die Alte schnaubte ungeduldig. »Er hat schon vorher hier gelebt; er war doch der Waffengefährte von Herrn Gottfried. Du weißt ja wirklich so gut wie gar nichts.«
»Sein Waffengefährte? Du meinst, er war einer seiner Verbündeten?«
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