Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
aber seine Worte gingen in einem plötzlichen tausendstimmigen Aufschrei unter. Eine Bewegung ging durch die Menschenmassen auf dem Platz wie Wind, der durch ein Kornfeld fährt. Mit einem schweren Dröhnen begannen die Glocken des Doms zu schlagen. Die Leute um den Brunnen herum drängten vorwärts. Das Pferd begann erschrocken zu wiehern und zu stampfen. Aude sprang auf die Beine und faßte nach den Zügeln, um es zu beruhigen. Philipp kam taumelnd in die Höhe und mußte sich an der Hausmauer festhalten.
»Was ist los?« rief Aude und kämpfte mit dem Pferd.
»Sie sind alle verrückt geworden«, schrie Philipp mit zornigem Gesicht und machte eine Handbewegung, die die halbe Stadt umfaßte. »Sie wollen alle ein Stäubchen von den Reliquien ergattern, damit Gott sie beim Jüngsten Gericht als Gläubige wiedererkennt.«
Die weiter hinten Stehenden schoben die Menschen vor sich an und drückten sie zum Dom. Eine stolpernde, zähe Bewegung kam in die Menge und zerrte auch Aude, Philipp und das Pferd mit sich.
»Steigt auf das Pferd«, rief Aude und schob Philipp gegen die Flanke des Tieres, das mit rollenden Augen und wildem Schnauben gegen die Massen antrat, die es einschlossen.
»Es ist eine Stute«, lallte Philipp.
»Eure Mannesehre wird schon keinen Schaden erleiden.« Philipp zog sich am Sattel in die Höhe und strampelte mit den Beinen; als das Pferd einen Satz zur Seite machte, verlor er den Halt und fiel bäuchlings über die Kruppe des Tieres. Aude packte seine Waden und versuchte zu verhindern, daß er auf der anderen Seite hinunterfiel, zog ihn aber fast wieder herunter. Philipp hielt sich verzweifelt an der Mähne fest. Aude hörte ihn unterdrückt fluchen; er schwang ein Bein über den hohen Rand des Sattels, schaffte es aber nicht, das zweite Bein nachzuziehen. Plötzlich überwältigte Aude die unfreiwillige Komik der Situation. Sie begann zu prusten, und als Philipp sie mit wütend rollenden Augen aus seiner erbärmlichen Lage anstarrte, brach sie in Lachen aus. Kurzerhand griff sie Philipp an den Hintern und schob ihn mit einer gewaltigen Anstrengung auf das Pferd, bis er vor dem Sattel auf der Kruppe saß.
»Was gibt es da zu lachen?« brüllte Philipp und begann im selben Augenblick noch lauter zu lachen als sie. Er beugte sich nach unten, hielt ihr die Hand hin und zog sie hinter sich in den Sattel. Aude klammerte sich an ihm fest und versuchte sich zu beruhigen. »Wie ein Sack Mehl«, beschwerte sich Philipp und rief einen neuerlichen Lachanfall hervor.
Das Pferd bewegte sich schwerfällig hin und her und versuchte, Platz zu gewinnen. Jemand schrie auf, als es ihm auf die Zehen trat, und ein anderer holte mit der Faust aus und schlug ihm voller Zorn auf die Flanke. Die Stute wieherte und machte einen Satz. Die ersten Flüche aus der Masse der Umstehenden wurden laut.
»Gleich werfen sie mit Steinen«, unkte Philipp und sah sich kämpferisch um. »Wir müssen verschwinden.«
»Wohin?« schrie ihm Aude ins Ohr.
»Irgendwohin. Zum ›Kaiserelefanten‹.«
Aude wendete das Pferd mit Mühe. Ein Mann wurde zu Boden gerempelt und versuchte sich mit furchtsamen Bewegungen vor den Pferdehufen in Sicherheit zu bringen, aber das Pferd stieg vorsichtiger über ihn hinweg als die anderen Menschen auf dem Platz. Philipp schwang wie wild beide Arme und brüllte den Leuten zu, aus dem Weg zu gehen, und half mit Tritten nach, wo seine Worte nichts nutzten. Die Glocken dröhnten mit ungeminderter Wucht zwischen den Wänden der Gebäude und über das Geschrei hinweg und verursachten Aude Kopfschmerzen. Dank Philipps Gezappel war es ihr fast unmöglich zu sehen, was voraus lag, aber das Pferd, das mittlerweile schnaubte und schäumte und an den Zügeln riß, bewegte sich von allein in jede Lücke, die ihm zuteil wurde. Schließlich hatten sie die Meute verlassen und lenkten das Pferd hinaus in die Gassen der Stadt. Als sie in die Bechergasse einbogen, milderte sich der Lärm der Glocken und der brüllenden Menschenmasse.
»Mir ist schlecht«, brummte Philipp.
»Ihr hättet nicht soviel Wein trinken sollen. Gut, daß Ihr den Schlauch nicht mehr habt.«
Philipp hob eine Hand und holte den Weinschlauch aus seinem Wams hervor. Mit einer müden Handbewegung zeigte er ihn nach hinten.
Der Alte Markt war ungewöhnlich ausgestorben, als sie ihn betraten und sich nach Osten in die Mühlengasse wandten, zum Eingang des »Kaiserelefanten«. Lärm drang heraus, während sie sich einig zu werden versuchten, wer
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