Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
Aude vermied es, ihm ins Gesicht zu sehen. Der Fluß flirrte unter dem knochenhellen Mondlicht wie die polierten Metallplättchen am Gewand eines Jongleurs. Es war schwierig, den Blick davon abzuwenden, wenn man sich einmal darauf eingelassen hatte.
»Als sie sich zu mir legte, wurde mir klar, was mir in der Ordenskommende erspart geblieben war. Es war, als würde ich erst da erwachen. Der Kanzler hätte mich zu Tode gefoltert, um aus mir herauszubringen, was aus Eurem Mann geworden ist.«
Aude gab ein Geräusch von sich, aber Philipp unterbrach sie. »Er hätte es getan. Daran gibt es nichts zu zweifeln. Ich habe in seine Augen gesehen. Es heißt, der Kaiser hätte keinen treueren Gefährten als ihn. Wenn er den Eindruck hatte, etwas, das ich weiß, stünde dem Wohlergehen des Kaisers und dem Reich im Weg, hätte er ohne mit der Wimper zu zucken alles getan, um das Wissen aus mir herauszuholen. Ich war nur ein Wurm, dessen Leben lediglich den Wert hatte, den er ihm beimaß.«
»Euer Leben hat den gleichen Wert wie das des Kanzlers.«
»Gestern erschien es mir jedenfalls unendlich wertvoll. Plötzlich schien mir alles neu, wie geläutert, und die kleinste Kleinigkeit versetzte mich in Entzücken: das Gefühl, auf dem sauberen Stroh zu liegen, das Atmen der Schläfer um mich herum, die Wärme unter den Fellen und Decken ...«
»Glückliche Frida«, sagte Aude, bevor sie es verhindern konnte. Sie hielt den Atem an.
»Weshalb? Ich schickte sie weg. Ich wollte meine Freude, am Leben zu sein, mit niemandem teilen. Dieser Momentgehörte nur mir. Ich glaube, sie war wütender als eine Katze, die in die Jauchegrube gefallen ist.«
Aude lächelte. Philipp räusperte sich und suchte offenbar nach einem Weg fortzufahren. Schließlich sagte er: »Ich will Euch erzählen, was bei der Mutprobe schiefging, mit der ich Johannes’ Freundschaft erringen wollte.« Er räusperte sich wieder. »Der Gedanke, mich vor den zwei Novizen – es waren Johannes und sein ›Kämmerer‹, wenn man so will – zu entblößen, jagte mir zuerst Scham ein, aber dann begann ich plötzlich eine aberwitzige Erregung zu fühlen. Die Erregung verband sich nicht mit dem Akt des Zeigens an sich, sondern mit dem Gedanken, es vor Johannes zu tun. Ich bekam ... Ich hatte eine Erektion.« Seine Stimme wurde lauter. »Mein kleiner Kerl stand wie eine Turnierlanze, wenn Ihr es genau wissen wollt.«
»Ihr braucht Euch nicht zu schämen«, sagte Aude ruhig.
»Ich weiß nicht.« Philipp seufzte. »Ich weiß nicht. Ich hatte damals das Gefühl, auf der Stelle sterben zu müssen. Ich weigerte mich, mich länger als einen winzigen Augenblick zur Schau zu stellen, und das war’s. Ich hatte die Probe nicht bestanden. So redete ich mir ein, daß ich sie gar nicht mehr bestehen wollte.«
»Und damit hattet Ihr unrecht«, vermutete Aude.
»Natürlich hatte ich damit unrecht. In Wahrheit wollte ich nichts anderes als Johannes’ Freundschaft, aber ich wollte sie nicht auf die Weise, die er darunter verstand. Und doch ...«, er räusperte sich ein drittes Mal, diesmal langanhaltend, und Aude wußte, er wollte etwas loswerden, was ihm schon seit seiner Jugend im Hals steckte, »und doch ... Wißt Ihr, etwa ein Jahr danach, im Sommer, halfen wir den Mönchen nach der Sext – das ist das Mittagsgebet – das Gras unter den Obstbäumen zu mähen. Tatsächlichmähten wir, während die Mönche darauf aufpaßten, daß sich die Fliegen nicht auf ihrer Tonsur festsetzten. Es war ein sehr heißer Sommer, und die Sonne brannte auf den Obstgarten herab. Schließlich fiel einer von uns um und konnte erst mit Wasser wieder zu Bewußtsein gebracht werden, und der Prior gewährte uns eine Pause bis zur Non. Ich suchte nach einem schattigen Platz unter den Beerensträuchern, um mich hinzulegen.«
Philipp hob den Stein auf, den er zu sich herangezogen hatte, und schleuderte ihn ins Wasser. Aude hörte ihn aufprallen. Der zerschmetterte Mondspiegel der Wasseroberfläche zersprang an einer Stelle zu noch mehr Teilen, bevor er sich wieder in seinen unruhigen Rhythmus fand.
»Im undurchdringlichsten Teil der Beerenhecke, wo sich eine niedrige Höhle aus Zweigen und Blättern gebildet hatte, stieß ich auf Johannes. Da wurde mir erst klar, daß ich ihn schon seit kurz nach dem Beginn der Mäharbeiten nicht mehr gesehen hatte. Johannes war nicht allein. Einer der anderen Novizen war bei ihm, einer, der die Aufnahmeprüfung geschafft hatte. Sie lagen sich in den Armen und küßten
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