Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
strafte. Vielleicht wurde sie darüber verrückt – ich habe keine Ahnung. Jedenfalls stand sie im Dorf bald im Ruf einer Hexe, und niemand wagte es mehr, sich dem Haus zu nähern oder gar darin zu arbeiten – bis auf die alte Frau, die schon immer für Dionisia gesorgt hatte und vielleicht sogar Radolfs und Katharinas Geheimnis kannte; und bis auf den Roßknecht, den die anderen Dörfler dazu brachten, für Radolf zu arbeiten, als Lambert geflohen war. Er war ihr Opfer an die Hexe, wenn man so will, damit sie das Dorf in Frieden ließ; und er war sich dessen bewußt. Ich hoffe, er ist allein oder mit den anderen davongezogen und baumelt nicht drüben im Wald an irgendeinem Ast.« Er wischte sich über die Stirn und ließ die Schultern sinken.
»Ich weiß nicht, wie genau der Kardinal über all das Bescheid wußte und in welcher Schuld er bei Radolf stand. Jedenfalls war ihm klar, daß Radolfs Anspruch auf das Erbe seines Herrn keinerlei Grundlage hatte. Deshalb schickte er wohl mich los, um die Dokumente zu Radolfs Gunsten zu fälschen. Und deshalb stimmte auch nichts hier so recht zusammen. Die Geschichte mit der Erbstreitigkeit zwischen Radolf und der Sippe seiner Frau war nur eine Erfindung, Es ging niemals um Katharinas Mitgift, sondern um das Erbe ihres ersten Mannes. Und es ging niemals um Dionisias Wohlergehen, sondern immer nur um Radolf.« Er lachte ärgerlich und spie aus. »Sie haben mich an der Nase herumgeführt, wie immer es ihnen gefallen hat.«
Aude schüttelte den Kopf und wandte sich zu Dionisia um. »Wir müssen uns um das Mädchen kümmern«, sagte sie. »Sie kann nichts für das, was geschehen ist. Gebt mir die Eimer. Bis das andere Wasser unten heiß ist, könnt Ihr die Toten begraben.«
Philipp hörte Aude mit leiser Stimme singen, während sie mit den Händen das kalte Wasser aber Dionisias Körper schöpfte. Er bewegte seine schmerzenden Schultern und ließ Galbert eine Weile graben, während er sich ausruhte. Sein Blick hielt Aude fest, die neben dem Zuber kauerte. Das kurze Haar fiel ihr ins Gesicht, und das Vorderteil ihres Wamses war dunkel vor Nässe; aber sie erschien ihm in diesen Momenten schöner denn je – fast schöner sogar als gestern nacht. Dionisias Kopf bewegte sich im Rhythmus von Audes reibenden Händen hin und her. Philipp konnte ihre nackten Schultern und ihr Brustbein sehen. Erversuchte, die Verliebtheit zu verstehen, die er bei ihrem ersten Anblick empfunden hatte, aber er konnte sie nicht mehr hervorholen. Er fühlte lediglich Mitleid und Trauer und ein tiefes Bedauern, weil er nicht verhindert hatte, was geschehen war. Er seufzte und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Aude zu, die zu singen aufgehört hatte und Dionisia anstarrte. Dionisia drehte plötzlich mit unendlicher Langsamkeit, als wäre sie ein steinaltes Weib, den Kopf herum und sah Aude ins Gesicht. Ihre starren Züge schienen in sich zusammenzufallen wie eine zerbröckelnde Mauer aus Sand. Aude zog sie zu sich heran und legte ihr die Arme um die Schultern. Nach ein paar Augenblicken hörte Philipp Dionisias Schluchzen, das sich aus ihrem Herzen zu reißen schien. Er räusperte sich und wandte sich ab.
»Warum um alles in der Welt müssen wir ausgerechnet hier graben?« beschwerte sich Galbert. »Alles ist voller Wurzeln.«
»Ich möchte, daß Radolf neben seiner Frau zu liegen kommt. Er war ein Mörder und ein Schuft, aber das ist es, was ihn getrieben hat: ihr nahe zu sein.«
»Aber die Alte muß hier doch nicht liegen, oder? Da drüben sieht die Erde viel lockerer aus – warum buddeln wir sie nicht dort ein? Es muß ohnehin noch ein Priester hierherkommen und die Erde weihen, da kann er das Fleckchen da drüben gleich mit einsegnen.«
»Radolf hat versucht, dort einen Brunnen graben zu lassen ...«, murmelte Philipp mit ersterbender Stimme. Er ließ den Spaten fallen und kletterte aus der flachen Grube, die sie ausgehoben hatten. Galbert sah ihm erstaunt nach, wie er zu dem lockeren Flecken Erdreich hinüberging und mit der Fußspitze gegen den Boden trat. Sein Blick fiel aufAude und blieb dort längere Zeit ruhen. Aude, die die noch immer weinende Dionisia an sich drückte, bemerkte es nicht. Philipp wandte sich zu Galbert um. Galbert war beinahe erschrocken über seinen Gesichtsausdruck.
»Komm hier rüber und bring das Werkzeug mit«, sagte er rauh. Galbert widersprach nicht.
Auf Philipps Anweisung hin gruben sie vorsichtig. Nachdem sie zwei, drei Handspannen tief gekommen waren, traf
Weitere Kostenlose Bücher