Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
Galberts Spaten auf einen zähen Widerstand. Sie schaufelten mit flach gehaltenem Blatt weiter und warfen die Erde links und rechts davon.
»Da liegt jemand«, sagte Galbert erstaunt. Philipp nickte und biß die Zähne zusammen. Sein Spaten bewegte sich wild. Innerhalb weniger Minuten hatten sie einen Körper zur Hälfte freigelegt, der in ein von der Erde dunkel gewordenes Tuch gehüllt war. Der Verwesungsgeruch hielt sich in Grenzen: Die Erde war kalt und feucht hier und schien die Leiche eher erhalten als ihren Zersetzungsprozeß gefördert zu haben. Galbert entging nicht, daß Philipp mehrmals einen kurzen Blick zu Aude hinüberwarf und dann hastig weiterschaufelte.
»Hast du eine Ahnung, wer das ist?« fragte Galbert, aber er erhielt keine Antwort. Schließlich hatten sie die gesamte Erde über dem Leichnam beseitigt. Zu seinem Erstaunen erkannte Galbert, daß er mit dem Gesicht nach unten in der Erde lag. Es dauerte einen Moment, bis ihm klarwurde, was das bedeutete; dann ließ er die Schaufel fallen und sprang zurück.
»Sei kein Narr«, herrschte ihn Philipp an. »Er liegt nur mit dem Gesicht nach unten, weil der, der ihn beerdigte, vor Angst halb verrückt war.«
»Und wer ist der Kerl?«
Philipp atmete schwer und warf einen erneuten Blick zu Aude hinüber. Als hätte sich ihr etwas mitgeteilt, sah sie auf und zu ihnen herüber; und was immer sie sah, als sie Philipps Blick erwiderte, brachte sie dazu, Dionisia loszulassen und langsam aufzustehen. »Bleib, wo du bist, um Himmels willen«, murmelte Philipp, ohne daß sie ihn hätte hören können, ohne daß sie auf seine Beschwörung reagiert hätte.
Aude machte einen Schritt auf sie zu. Über die Entfernung hinweg konnte Galbert ihr weißes Gesicht erkennen. Ihre Arme hingen steif an ihren Seiten hinab. »Was ist los? Was habt Ihr gefunden?«
Ihre Stimme klang über die Entfernung hinweg dünn, aber es mochte nicht nur an der Entfernung liegen. »Geh zurück zu Dionisia«, hörte er Philipp sagen.
»Warum? Was ist dort?«
»Geh zurück zu Dionisia.« Sie gehorchte nicht. Philipp stellte sich auf den Rand der Grube und hob wie abwehrend die Schaufel.
Dann ließ er sie plötzlich sinken. Sein Gesicht war grau.
»Was ist das? Ist das ein ... Grab?« flüsterte Aude. »Mein Gott. Wer liegt da drin?«
Philipp gab Galbert einen Wink und beugte sich zum Kopfende des Toten hinüber. Galbert folgte ihm widerwillig und faßte das Leichentuch dort, wo die Leibesmitte lag. Sie zerrten; der Tote war schwer wie Blei, aber dann löste er sich doch langsam vom Boden und kam in die Seitenlage. Das Tuch hielt seine Gliedmaßen zusammen. Der fest umwickelte Kopf sank nach hinten. Galbert versuchte nicht auf die Bauchseite des Tuches zu schauen und tat es doch. Zu seiner Erleichterung waren noch keine Maden zu erblicken. Das Tuch war an einigen Stellen verrutscht undoffenbarte eine Menge schwarzen Blutes und eine fleckige Hand. Schwach setzte sich der süßliche Duft verderbenden Fleisches über den schweren Erdgeruch durch.
Galbert trat zurück und sah Aude von unten her vorsichtig an. Jede Farbe schien aus ihrem Gesicht gewichen zu sein; ihre Lippen wirkten blau. Philipp ballte die Hände ein paarmal zu Fäusten, dann wickelte er mit spitzen Fingern das Leichentuch vom Gesicht.
Die Erde war zu kalt für die Maden und zu kalt für die schlimmeren Folgen der Verwesung gewesen. Dennoch war das Gesicht entstellt; durch die Körperlage hatte sich das Blut dort angesammelt, es aufgetrieben und dunkel verfärbt. Die Augen standen offen; statt in ihre Höhlen zurückzufallen, waren sie weit hervorgetreten. Es war das Antlitz eines gedunsenen, schwarzfleckigen, menschgewordenen Basilisken, das aus seiner Umwicklung aus schmutzigem Tuch zu ihnen herausstarrte.
Aude stolperte zurück und setzte sich plötzlich mit einem harten Ruck auf den Boden.
Philipp blickte in das tote Horrorgesicht.
»Hallo, Minstrel«, sagte er erstickt.
Die Ratten kriechen hervor
I rgendwie war die ganze Arbeit plötzlich an Galbert hängengeblieben. Während Aude blicklos, tränenlos, willenlos und ohne noch ein weiteres Wort zu sagen am Rand des neuen Grabes saß und zu dem Toten hineinstarrte, dessen Gesicht das Tuch nun wieder gnädig verhüllte, und während Philipp ebenso regungslos neben ihr saß und entschlossen schien, zusammen mit ihr die Totenwache für den namenlosen Kerl zu halten (von dem Galbert langsam zu dämmern begann, daß er der vermißte Ehemann Audes sein mußte),
Weitere Kostenlose Bücher