Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
Unsicherheit in ihrem Gesicht gesehen, als sie ihn angefahren hatte.
»Wenn Ihr es wünscht, werde ich natürlich gehen, meine Dame«, sagte er. »Aber bevor Ihr darüber entscheidet, würdet Ihr dies bitte Eurem Vater aushändigen lassen? Ich warte so lange hier oder vor dem Tor Eures Hauses; Ihr könnt mir auch gern einen Eurer Burgmannen schicken, der mich während dieser Zeit bewacht.« Er nestelte an seinem Wams und zog einen zusammengerollten Lederlappen heraus, auf dem ihm der Kardinal eine kurze Empfehlung geschrieben hatte. Sie entrollte ihn und hielt ihn sich vor die Augen; mit Erstaunen wurde ihm klar, daß sie lesen konnte.
»Philipp«, sagte sie, und ihre Stimme verlor ein wenig an Schärfe und gewann dafür an Herablassung. »Du bist der Truchseß deines Herrn?« Als Fremder hatte er eine mögliche Bedrohung dargestellt; als fremder Dienstbote war er harmlos. Philipp zog die Augenbrauen hoch und machte eine Miene, die amüsiert wirkte. Tatsächlich ärgerte ihn ihre Herablassung. Seit er sie gesehen hatte, war er von dem Wunsch beseelt, Eindruck auf sie zu machen. Sie rollte das Schreiben zusammen und gab es der alten Frau, ohne sich nach ihr umzublicken.
»Du darfst mich bis zum Tor begleiten«, sagte sie. »Ich lasse meinen Vater unterrichten, daß du hier bist.«
Philipp nickte, und sie wandte sich um, ohne ihm noch ein weiteres Wort zu gönnen. Die Dorfbewohner standen vor dem Haus, in dem die tote Frau und das tote Kind lagen, und starrten sie an.
»Ihr könnt hineingehen«, rief sie. »Sie hat mir gegenüber ihre letzte Pflicht erfüllt.« Die Männer und Frauen setzten sich in Bewegung und drängten zur Tür, selbst in diesem Augenblick der Besitzergreifung fremden Guts so leidenschaftslos, wie sie auf der Straße abgewartet hatten. Der Witwer war von seinem Posten neben der Tür verschwunden; entweder zurück in sein Haus oder an einen Ort, an dem er für eine kurze Weile allein sein konnte mit sich und seinen verstörten Gedanken. Das Mädchen eilte in Richtung auf den Dorfausgang davon, die alte Frau wie einen Schatten hinter sich, und Philipp zog sein Pferd am Zügel hinter den beiden her.
»Wie darf ich Euch nennen, Dame?« fragte er und erwartete nicht wirklich eine Antwort.
»Dionisia«, sagte sie über die Schulter. Dionisia; das Geschenk Gottes. Dame Dionisia. Philipp sprach sich ihren Namen vor, bis sie vor dem Tor zu Radolfs festem Haus ankamen und sie zusammen mit der alten Frau hineinschlüpfte, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen.
Radolfs Haus, oder besser: sein dominion , denn es als festes Haus bezeichnen zu wollen, dafür war es zu groß, und für ein Gut war es wiederum zu gering, Radolfs dominion also bestand aus einer künstlich aufgeschütteten, steilen Böschung, durch die an einer dem Dorf zugewandten Stelle eine Lücke gebrochen war. Die Straße endete genau vor dieser Lücke, Planken führten hindurch, unter denen sich ohne Zweifel ein Wasserbecken befand, danach folgte ein Stück mannshoher Steinmauer mit dem Tor darin, und dahinter setzte sich die Straße als eine weniger breit ausgetretene Piste durch den umböschten Bereich fort. DasHaus besaß ein Erdgeschoß, ein Stockwerk und ein steiles Dach und setzte der Straße als erstes einen niedrigen, schmalen donjon entgegen, einen Turm, der sich kaum über das Hausdach erhob und direkt an dessen Vorderseite gebaut war. Später sollte Philipp noch eine kleine Kapelle entdecken, die sich zur Linken des Hauses an die Innenseite der Böschung drückte, einen umzäunten Obstgarten genau hinter dem Haus und ein heruntergekommenes Stallgebäude zu seiner Rechten, dessen Rückwand bereits das jenseitige Ende des umfriedeten Bereichs berührte. Eine Holzpalisade schloß die Böschung nach hinten zu ab; hinter der Palisade erhob sich der dunkle Schatten eines nach beiden Seiten weit in die Landschaft greifenden Waldes. Das dominion war ebenso klein und pathetisch wie das Dorf, von dem es lebte, und beide zusammen waren nichts als eine Warze in dem sanften Flußtal, in dem sie standen. Philipp wartete auf die Ankunft eines Burgmanns beim verwaisten Tor und auf eine Nachricht von Radolf Vacillarius und fragte sich, wie groß der Wert der Bestechungssumme wirklich sein mochte, damit der reiche Kardinal sich um die Erhöhung dieses bedeutungslosen Besitztums kümmerte.
Anstelle eines bewaffneten Burgmanns öffnete der Besitzer des dominion selbst das Tor und starrte zu Philipp heraus, der neben seinem Pferd hart am
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