Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
Anfang der Planken stand und mit nachdenklich gerümpfter Nase den Dünsten hinterherschnupperte, die aus dem fauligen Wasser unter den Planken in die Höhe stiegen. Obwohl Radolf Vacillarius’ Augen blutunterlaufen, obwohl sein Haar zerzaust, sein Gesicht unrasiert und seine Tunika beschmiert war, wußte Philipp auf Anhieb, daß es sich um den Herrn und nicht um einen seiner Burgmannen handelte. Während der kurzen Wartezeit war ihm klar geworden, daß es keine Burgmannen gab, die das Tor bewacht hätten; er hatte es bereits geahnt, als er nur die alte Frau in der Begleitung der Dame Dionisia gesehen hatte. Selbst sein eigener Herr, dem seine Hintersassen und Leibeigenen zulächelten, wenn er sich unter ihnen aufhielt, tat dies nie ohne wenigstens einen seiner bewaffneten Gefährten. Radolf lehnte an dem Torflügel, den er halb geöffnet hatte, und betrachtete Philipp schweigend und mit deutlicher Mißbilligung. Ein zweiter Umstand wurde Philipp ebenso rasch klar: Dionisia hatte nicht gelogen, als sie sagte, ihrem Vater sei nicht wohl. Sie hatte lediglich verschwiegen, daß die Unpäßlichkeit nicht von einer Krankheit, sondern von einem schweren Weinrausch stammte. Philipp gab den prüfenden Blick Radolfs mit einem zutraulichen Lächeln zurück und versuchte, die in ihm aufsteigende Abneigung gegen den Burgherrn zu unterdrücken.
Radolf schwang den Torflügel zur Gänze auf und stand dann breitbeinig in der halben Öffnung. »Komm hierher«, sagte er mit heiserer Stimme.
Philipp zögerte einen Moment, dann ließ er die Zügel des Pferdes los und schritt über die Planken. Als er bei Radolf angelangt war, schritt dieser um ihn herum und spähte mißtrauisch auf Philipps Hinterkopf.
»Der Kardinal hat dich geschickt? Aber du bist kein Mönch«, grollte er. Philipp schüttelte den Kopf.
Radolf stierte ihn einen Augenblick lang an. Hinter seiner Stirn schien sich plötzlich ein Gedanke zu formen und langsam an die Oberfläche des Weinsumpfs zu schwimmen, der in seinem Kopf schwappte. Seine Augen nahmen einen wachsamen Ausdruck an, und die rote Farbe wich ein wenig aus seinem Gesicht.
»Was tust du hier?« fragte er und wich einen Schritt zurück. Philipp, der ihn verständnislos beobachtete, bemerkte zu seinem Schrecken, daß Radolfs Hand zum Griff eines Dolchs glitt, der in seinem Gürtel steckte. Er breitete hastig die Arme aus.
»Ich habe ein Empfehlungsschreiben Seiner Exzellenz, das ich Eurer Tochter ausgehändigt habe.« Radolf kniff die Augen zusammen. Seine Hand zuckte um den Griff des Dolchs, ohne ihn loszulassen. Langsam faßte er mit der anderen Hand nach hinten und zog das Schreiben des Kardinals hervor. Er hielt es in die Höhe und entrollte es.
»Darin steht nichts von dir«, knurrte er.
»Mit der Bezeichnung ›derjenige, der Euren Sorgen abhelfen wird‹, bin aber ich gemeint«, erklärte Philipp. »Ich war selbst dabei, als er die Botschaft verfaßte.«
»Was habe ich denn für Sorgen?«
»Keine Angst, der Kardinal hat mir alles erzählt.« Wenn Philipp gedacht hatte, Radolf mit dieser Versicherung zu beruhigen, dann hatte er sich getäuscht. Der Burgherr wurde noch um eine Spur blasser.
»Was meinst du damit?« zischte er und brachte seinen Kopf so nahe an Philipps Gesicht, daß dieser den Alkohol in Radolfs Atem riechen konnte und den Speichel spürte, den die schwere Zunge des Burgherrn versprühte.
»Na, daß man Euch um die Mitgift Eurer Frau betrogen hat. Der Kardinal sieht eine Möglichkeit, Euch wieder zu Eurem Recht zu verhelfen.«
Radolf starrte ihn weiterhin an, aber seine Augen weiteten sich zusehends. Plötzlich schloß er sie und schüttelte den Kopf. Auf seinen Wangen brannten zwei rote Flecken. Seine Schultern sanken herab.
»Die Mitgiftsache«, murmelte er. Er öffnete die Augen wieder und blickte in den grauen Himmel, bevor er seine Aufmerksamkeit Philipp zuwandte. »Deshalb bist du hier?«
»Was habt Ihr denn erwartet?« fragte Philipp mißtrauisch. »Was ich erwartet habe? Nichts; nichts.« Radolf preßte die Lippen zusammen und atmete ein. Er schien mehr überrascht als erfreut zu sein, und Philipp fragte sich, was der Kardinal mit seiner Aktion bezwecken mochte. Er hatte angenommen, Radolf wäre dem Kardinal mit seiner Bitte schon seit Monaten in den Ohren gelegen. Offenbar war es nicht so. Radolfs Augen begannen plötzlich zu funkeln. »Meine Mitgift«, sagte er nochmals. »Was hat der Kardinal dir alles erzählt?«
Daß dich die Liebe blind gemacht hat und du
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