Der Jakobsweg
immer die Morgenfrühe zum Wandern nutzen und suche nach einem Ausstieg. Schließlich seile ich mit einem Strick den Rucksack vom Balkon ab, klettere auf einen Absatz hinunter und springe. Geschafft! Der See spiegelt den blauen Himmel. Die letzten zartweißen Nebelschleier vergehen.
Gestern abend war es zu spät, das neue Portomarín zu besichtigen, vor allem die Wehrkirche möchte ich von nahem sehen. Gebaut im 13. Jahrhundert im Auftrag des Ritterordens San Juan de Jerusalem, ist sie eher vom kriegerischen als religiösen Geist geprägt. Es ist ein strenger, kastenförmiger Bau. Fensterlos ragen die Mauern empor, nur schießschartenartige Einschnitte sind vorhanden. Der rechteckige Kasten ist hoch oben mit Zinnen gezackt. Einziger Schmuck ist eine Fensterrose an der Westfassade. Wahrlich eine Kirche, die dem Schutz und der Verteidigung derer diente, die in ihr Zuflucht fanden. An den Steinquadern sind gelbe Zahlen zu erkennen. Eigenartig zu denken, daß diese so unverwüstlich wirkende Kirche Stein für Stein abgetragen und hier neu wieder zusammengefügt wurde.
An das Langhaus ist im Osten ein runder, kleiner Chor angeklebt. Beim Umschreiten dieser Kirche sehe ich, daß sie drei Portale hat, im Westen, Süden und Norden. Im Gegensatz zu dem streng kriegerischen Erscheinungsbild der Wehrkirche sind sie figurenreich geschmückt. Drastische Darstellungen zeigen menschenfressende Ungeheuer, Harpyen und saurierartige Wesen, aber natürlich auch Maria mit den Engeln. Die Ortschaft wirkt uniform. Mit Arkaden aus Granit wollte man der Einförmigkeit entgegenwirken, hat aber das Gegenteil erreicht, weil sie lieblos hingeklotzt wurden. Wegen der frühen Morgenstunden sind wenige Menschen auf der Straße. Mit einer Frau, die gerade frisches Brot gekauft hat, komme ich ins Gespräch. Sie erzählt mir, wie glücklich sie sei über die neuen Häuser. Die sind modern und sauber. Dem alten Dorf, das auf dem Grunde des Stausees liegt, trauere sie nicht nach.
Ich pilgere durch den Wald. Bussarde kreisen im Himmelsblau. Girlitze trillern, und ein Eichhörnchen mit weißem Bauch schwingt seinen Schweif über den rotbraunen Rücken. In Windeseile erklimmt es einen Baum, setzt sich in sicherer Höh auf einen Ast und keckert wütend zu mir herunter. Wegen romanischer Malereien mache ich einen Umweg nach Villar de Doñas. Im Jahr 1184 wurde dort ein Kloster von dem Santiagoritterorden gegründet. Erhalten geblieben ist die Kirche von 1386. Sie diente auch als Mausoleum für die galicischen Ritter, die im Kampf gegen die Mauren gefallen waren. Neben einem kaum befahrenen Landsträßchen liegt diese kleine Santiagokirche, umgeben von mannshohen Stauden des roten Fingerhutes. Den Zugang rahmen arkadenförmige Bögen. Ich gehe hindurch. Es ist still. Kein Mensch ist zu sehen. Die Portaltür ist nicht verschlossen. Sie ist ochsenblutrot gestrichen und mit romanischen Eisenbeschlägen verziert. Eine eindrucksvolle Tür, über der sich drei Archivolten mit reichen Ornamenten spannen. Ein Tympanon ist nicht vorhanden. Auf den Säulenkapitellen sind Harpyen und Pflanzen eingemeißelt. Es wirkt sehr ursprünglich, als sei nichts restauriert worden.
Einschiffig öffnet sich der Kirchenraum. Er wirkt überraschend groß, weil sich an das Querschiff direkt drei Apsiden anschließen, so daß die Kirche eine grottenmäßige Ausweitung erfährt. Der gruftartige Eindruck wird durch die aufgereihten Sarkophage verstärkt. Da sind Rittergestalten in Stein gehauen und steinerne Wandbilder des Santiagoordens: die Muschel und das Schwert.
Die Wände und der mittlere Chor zeigen noch Spuren ehemaliger Malerei. Sie wirkt bläßlich und stilisiert. Erst nach längerem Hinschauen werde ich ihrer besonderen Wirkung gewahr. Da ist ein Christus dargestellt nach der Auferstehung. Aber nicht triumphierend, sondern leidend und gequält, so, als sei ihm bewußt, daß sein Opfer umsonst war. Er hat sich halb aus dem Grab erhoben, als wolle er gleich wieder zurücksinken. Die durchbohrten Hände hält er vor dem Körper gekreuzt, der Kopf neigt sich mit schmerzvollem Gesichtsausdruck zur rechten Schulter. Nur zwei Farben wurden für das Bild verwandt, das also eher eine Zeichnung als ein Gemälde ist. Ein dunkler Strich umreißt die Kontur, mit Braunrot sind die Akzente gesetzt: Bluttropfen, Lippen, Haare und Heiligenschein.
In Galicien sind entlang des Pilgerpfades Meilensteine aus hellem Granit aufgestellt mit einer eingeprägten Muschel und mit Kilometerangabe.
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