Der Jakobsweg
Vordergrund? Es ist rührend, ihre dankbaren Lobpreisungen zur vorgefundenen Bequemlichkeit zu lesen, aber keine geistige Kraft, keine Gedanken, keine Gefühle zum Pilgerweg. Das wundert mich. Sind die Menschen in Deutschland durch den Wohlstand bereits zu verwöhnt? Deshalb machen ihnen vielleicht die Unbequemlichkeiten des Weges mehr Beschwerden als Pilgern anderer Nationen, so daß sie gar nicht anders können, als im Gästebuch ihre Dankbarkeit für die Erlösung von den Leiden zu bekunden. Nach den Eintragungen zu urteilen, scheint bei den Deutschen im Mittelpunkt ihres Denkens und Fühlens nur die Dusche zu stehen! Jedenfalls wird ihre segensreiche Wirkung von fast allen Deutschen gepriesen. Ich bin sicher, auch die Pilger aus Frankreich, England, Holland, Belgien, Polen, aus der Tschechoslowakei und aus Spanien haben die Unterkunft genossen, aber warum das Duschen erwähnen, wo es doch soviel Wichtigeres zu sagen gibt?
Als wir schon fast in unseren Krankenhausbetten eingeschlafen sind, kommen drei Franzosen in den Raum. Sie verhalten sich, als seien sie allein im Zimmer und reagieren nicht auf unsere Bitten, doch etwas leiser zu sein.
Vielleicht verstehen sie kein Spanisch. Sergio, auf den ich insgeheim gewartet hatte, kommt nicht.
Noch bevor die anderen am nächsten Tag aufstehen, bin ich schon pilgerbereit und marschiere durch das grüne Tal. Die Sonne scheint hinter den Wolken, und dunstiger Nebel zieht durch die dichten Kronen der Maronenbäume. Die Luft ist feuchtigkeitsschwer. Windstille. Dieses Galicien ist sehr verschieden von den anderen Provinzen. Seit ich gestern von dem Gebirge abgestiegen bin, kann ich kaum glauben, noch in Spanien zu sein. Galicien ist wie ein Schwamm, es saugt die Feuchtigkeit auf und verwandelt sie in wuchernde Vegetation. Wälder, Wiesen, Felder, Hecken, alles üppig grün. Die Dörfer sehen anders aus. Statt Holzzäunen umgrenzen senkrecht gestellte Steinplatten die Gebäude und Gärten, oft auch die Felder. Die Häuser sind aus fast schwarzen Steinen, und mit dunklen Schieferplatten gedeckt. Die Menschen haben die galicischen, breitknochigen Gesichter mit tiefliegenden Augen. Sie sprechen einen Dialekt, den ich nicht verstehen kann, und auch wenn sie sich um klares Spanisch bemühen, klingt es kehlig. Es sind ernste Menschen, zurückhaltend und verschlossen. Sogar der Himmel ist anders in Galicien. Er hat die Weite verloren und seine glasklare Höhe. Schwer lastet er auf der Erde. Regenträchtig ziehen niedrig die Wolken. Und selbst wolkenloser Himmel hat niemals die azurblaue Leichtigkeit wie in Kastilien. Galicien ist ein fruchtbares Bauernland, aber erdenschwer und dunkel.
Eigentümlich sind die horreo. Meist sind sie außerhalb der Ortschaften zu finden, und nur durch beharrliches Nachfragen erfahre ich, daß es Vorratsspeicher sind. Sie sehen aus wie kleine Häuschen. Ein viereckiger, steinerner Kasten, darüber ein Satteldach aus Steinplatten. Die Speicher stehen nicht auf der Erde, sondern auf vier steinernen Säulen mit je einer mühlsteinartigen Steinplatte dazwischen, damit die Mäuse nicht hineinklettern können. Der Dachfirst ist an seinen zwei Enden mit kleinen Türmchen oder Spitzen geschmückt. Die eine trägt das christliche Kreuz, die andere ein keltisches Zeichen, das aussieht wie ein Phallussymbol. So sind die lebensnotwendigen Vorräte doppelt geschützt: Vom Christentum und vom heidnischen Abwehrzauber. Eigentlich sind sie Konkurrenten um den Glauben der Menschen, aber hier miteinander vereint in inniger Gemeinschaft und Aufgabenteilung. Selbst die Friedhöfe sind anders in diesem alten Land der Kelten. Statt Gräbern, Grabsteinen und Kreuzen sind Grabhäuser aufgebaut, ähnlich der Form der horreo, allerdings verziert mit Steinfiligran. Die Friedhofsmauer ist rings mit Phalluszeichen gespickt. Vor lauter emporgerichteter Phalli kann ich kaum noch Kreuze erkennen. Diese Symbole der Fruchtbarkeit scheinen den Menschen zu einem langen Leben verholfen zu haben, denn fast alle hier Begrabenen wurden älter als 80, einer sogar 92 Jahre.
Zwischen Viehweiden und beschattet von Eichen steht eine unscheinbare romanische Kirche, die Santiagokirche von Barbadelo. Sie ist bemerkenswert in ihrer Einfachheit. Da ist ein Tympanon. Es zeigt außer einem dekorativen Fries einzig eine unbeholfen eingemeißelte Figur. Angewinkelt hebt sie die Arme nach oben. Soll das Jesus Christus sein, der die Eintretenden segnet? Nur die Umrisse des Körpers sind zu erkennen, kein
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