Der Jakobsweg
Gesicht, keine Kleidung, keine Details. Einzig diese kleine, einsame Figur, die die Arme ausbreitet. Dicht auf dicht folgen die Dörfchen hintereinander mit seltsam klingenden Namen: Morgade, Mirallos, Moimentos, Montras... Mit den Bewohnern komme ich nicht in Kontakt. Die Häuser liegen hinter den martialischen Steinplatten. Und der Pilgerweg selbst ist nochmals beidseits von hohen steinernen Mauern eingefaßt. So bleiben Pilger und Dörfler abgegrenzt voneinander. Nur einmal begegnet mir ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen. Sie will scheu an mir vorbeigehen. Da bitte ich sie schnell um Wasser, obwohl ich gar keinen Durst habe, sondern nur ein paar Worte reden möchte. Sie zögert, bleibt stehen. Dann nimmt sie meine Wasserflasche und eilt davon, verschwindet hinter den Mauern und Steinen. Nach kurzer Zeit kehrt sie zurück, mit der gefüllten Flasche und einem Glas, randvoll mit perlendem eiskalten Wasser, so daß ich meinen Durst stillen und die Flasche als Reserve mitnehmen kann. Sie ist ein pummeliges Mädchen mit braunen Zöpfen und grauen Augen, die wie von innen leuchten. María Jesus heißt sie. Sie antwortet auf meine Fragen: Sie gehe in Sarrià zur Schule. Was sie später machen werde, wisse sie noch nicht. Wahrscheinlich heiraten und im Dorf bleiben, sie kenne niemanden, der bisher aus ihrem Dorf weggezogen sei.
Am Abend leuchtet im Westen ein grüner Schimmer. Im Tal kräuselt sich das Wasser eines Stausees. Auf seinem Grund liegt ein versunkenes Dorf. Portomarín war eine reizvolle mittelalterliche Ortschaft, eine wohlbekannte Station des Pilgerweges. Eine romanische Brücke führt über den Miño. Die Häuser versanken in den künstlich angestauten Fluten des Flusses. Die Kirche San Pedro, den Palast der Berbetoros, das Herrschaftshaus der Barone Mazu und die Wehrkirche San Nicolas versetzte man an das Hochufer des neuentstandenen Sees. Jeder Stein dieser Gebäude wurde numeriert, abgetragen und wieder aufgebaut. Die Häuser sind neu. Im Gegensatz zu den sonst dunklen galicischen Bauernhäusern sind diese blendend weiß. In ihrer Mitte steht wie ein Klotz die Wehrkirche San Nicolas. Sie wirkt zwischen den modernen Häusern wie ein fremdartiger Torso. Türme hat diese Kirche nicht. Der hohe viereckige Kasten ähnelt eher dem Teilstück einer zyklopenartigen Burgmauer als einer Kirche.
Den Stausee überquere ich in der Abenddämmerung auf einer modernen Zementbrücke. Am gegenüberliegenden Ufer ein einzelnes Haus. Auf der Veranda stehen Menschen, winken und rufen. Ich erkenne Tommaso und Pavel. Und Sergio!
Es ist eine Jugendherberge. Auch Nichtpilger können sich einmieten und längere Zeit bleiben, während man in den refugios in der Regel nur einmal übernachten darf.
Wir sitzen im Mondschein auf der Terrasse. Das Wasser plätschert leise gegen die Steine, und Frösche quaken unentwegt. Pavel und Tommaso sind schlafen gegangen. Sergio spricht Spanisch mit katalanischem Dialekt, ich muß mich sehr anstrengen, ihn zu verstehen. Es ist mir nicht möglich, mit ihm einen Dialog zu führen. Gelingt es mir mal, seinen Redestrom zu unterbrechen und meine Gedanken hinzuzufügen, hört er nicht zu und ist ungeduldig, seinen Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. Bereits vorher in der Unterhaltung mit Tommaso und Pavel hatte mir nicht gefallen, wie Sergio sich verhielt. Zunächst war ich froh, als die beiden zu Bett gingen, denn ich hoffte, daß ich Sergio hinter seiner Maske finden könnte. Nun langweilt mich sein Geschwafel. Abrupt stehe ich auf und sage, ich ginge jetzt schlafen. Er folgt mir und als wir in dem schmalen Gang sind, umfaßt er mich plötzlich und hat mich schon in sein Zimmer hineingezogen. Ich reiße mich los. Doch bevor ich bis zur Türe komme, hat er mich eingeholt und zerrt mich zum Bett. Ich wehre mich mit aller Kraft. Verärgert hält er inne. »Warum führst du dich so auf? Ich dachte, du willst. Du hast mich doch die ganze Zeit angemacht.«
Vor Wut kann ich kein Wort mehr spanisch. Und schimpfe in deutsch: »Du blöder Trottel, du!«
An der Tür wieder ruhiger geworden, drehe ich mich noch mal um und sage: »Asi no! So nicht!« und gehe.
25 Von Portomarín bis Monte Gozo
Am Morgen liegt eine Nebelwand über dem See. Die Sonne steigt höher und durchdringt mit ihren Strahlen den Wasserdampf, wärmt und trocknet. Der Nebel reißt auf, bekommt Risse, Sprünge, Löcher. Die Wasserfläche schimmert hindurch. Nebelfetzen verwehen.
Die Tür ist verschlossen. Ich möchte wie
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