Der Jakobsweg
schmerzhaft in die Knie. Wie gut, daß ich mich mit dem Stock abstützen kann, den die Frau in Población de Campos mir geschenkt hatte. Sehen kann ich nicht viel. Nebel verhüllt die Landschaft. In Böen stößt der Regen auf mich nieder. Der Wind bauscht den Regenumhang. Ich komme mir vor wie eine nasse Fledermaus, die vom Berg flattert.
Der Abstieg geht mir zu schnell. Jetzt bereue ich, nicht länger in Cebreiro geblieben zu sein. Aber was hätte ich tun sollen, hellwach unter den Schläfern?
Es regnet noch immer, als ich, nun schon im Tal, nach Triacastela gelange. Der Friedhof am Weg ist pflanzenüberwuchert. Malven und Goldraute überragen die Grabkreuze. In der Mitte steht eine Friedhofskirche, der ein Turm aufsitzt, als wäre sie nur die Basis für seine aufragende Größe. Mir kommt auf einmal die Idee, daß jeder Kirchenbau das männliche und das weibliche Prinzip in sich verkörpert: Das Kirchenschiff mit seinem Geborgenheit spendenden Hohlraum, ist ganz auf Innerlichkeit bedacht und der aufgerichtete Turm strebt nach Wirkung und will Aufmerksamkeit erregen.
Die Steine der Friedhofskirche von Triacastela sind von Flechten überzogen, sie sind deshalb dunkel schattiert, fast schwarz. In den Mauerspalten wachsen Büsche und junge Bäume. Mir gefällt, wie diese Kirche mit der Natur eine Einheit bildet.
Durch grüne Täler mit viel Wasser und hohen Bäumen gelange ich am Abend nach Samos. Inmitten üppigen Grüns liegt ein mächtiger Klosterkomplex, das Benediktinerkloster Samos. Die Mönche müssen mit Bedacht dieses fruchtbare Gebiet als ihren Besitz ausgewählt haben. Die Renaissancefassade, die herrschaftlichen Steintreppen, die Wirtschaftshäuser, die langen Wohntrakte, die Kuppel der Renaissancekirche und die zwei Kreuzgänge künden von Reichtum. Als machtvolles steinernes Monument liegt das Kloster Samos inmitten von all dem Grün. Einst eine wichtige Station auf dem Pilgerweg, nimmt das Kloster noch heute Pilger auf, die zu Fuß unterwegs sind. Ein Mönch führt mich in einen hellen Raum mit sechs Betten aus weißlackiertem Metall, ähnlich wie Krankenhausbetten, und mit weißen Nachttischen. Tommaso trifft als nächster ein. Wir kochen Spaghetti mit Zwiebeln und Tomaten.
Tommaso ist verheiratet. Er wirkt nicht glücklich, als er über seine Ehe spricht. Nach Santiago ginge er, um sich klarzuwerden, wie er leben wolle.
Ein Mönch klopft an die Tür und tritt ein. Er trägt ein schweres, in Leder gebundenes Buch, das Gästebuch des Klosters, und bittet darum, daß wir uns eintragen. Der Mönch setzt sich auf ein Bett und berichtet von Erlebnissen mit Pilgern, die im Kloster übernachteten.
»Diejenigen, die sich anständig verhielten, habe ich mir nicht gemerkt. Aber einige werde ich niemals vergessen. Am lebhaftesten hat sich mir ein Pilger eingeprägt, oder was war er eigentlich? Es ist schon einige Jahre her, da klingelte das Telefon und eine männliche Stimme tat kund, er wünsche im Kloster zu übernachten, aber er werde erst später ankommen. Ich wartete bis Mitternacht. Dann ging ich zu Bett mit der Gewißheit, er habe anderswo eine Unterkunft bekommen. Gegen halb drei wache ich auf. Wüster Radau. Ich eilte zur Pforte, dachte schon, etwas Schlimmes, ein Unglück, eine Katastrophe müsse passiert sein. Vor dem Kloster stand ein Mann, und der schlug wie ein Berserker mit aller Kraft einen dicken Knüppel gegen das Tor. Es war ein furchterregender Anblick. Ich sah mich wehrlos einem Wahnsinnigen gegenüber. Es stellte sich jedoch heraus, es war der Mann, der telefoniert hatte und er wollte nur sein Nachtquartier. Stellen Sie sich das vor, um halb drei tobt der wie ein Tollwütiger an einer Klosterpforte, das kann seiner Seele kein Heil gebracht haben.«
Die Erinnerung an das Erlebnis hat den Mönch aufgeregt. Er beruhigt sich aber schnell wieder, lächelt und wünscht uns eine gute Nacht. Das Buch würde er morgen früh abholen. Ich lese die vielen Eintragungen in dem Gästebuch. Fast alle deutschen Pilger bedanken sich herzlichst für die Gastfreundschaft, rühmen die komfortable Unterkunft, das bequeme Bett, die Waschräume, das Essen. Aus den anderssprachigen Inschriften entziffere ich Sätze, die das Nachdenken über die Pilgerschaft beinhalten, die Motive des Unterwegsseins werden angesprochen, philosophische Gedanken über Weg und Ziel dargelegt, religiöse Überzeugungen geäußert und Zweifel bei der Selbstfindung. Warum steht allein bei den Deutschen das leibliche Wohlergehen im
Weitere Kostenlose Bücher