Der Jakobsweg
zog mich in mein Pensionszimmer zurück. Mein Rückzug ähnelte einer Flucht, denn ich wollte nichts mehr sehen und hören von dieser Stadt und ihren Menschen.
Die Geräusche dringen bis in mein Zimmer. Ich bin froh, nicht mehr dort draußen zu sein und gleichzeitig würde ich doch gern dazugehören und mit den Leuten lachen und fröhlich sein. Das erste Mal auf dieser Reise empfinde ich, daß ich allein bin. Auf den von Wind umbrausten Pyrenäenhöhen fühlte ich mich nicht einsam. Dort war ich mir selbst genug. Die Natur war gewaltig und mächtig, sie füllte mich ganz aus. Auch gestern, bei der berauschenden Wanderung durch Täler und über Hügel, hätte mich ein Reisegefährte nur gestört. Dann hätte ich den Ginster nicht so intensiv gerochen, die Orchideen nicht so lange bewundert und die Spinne in ihrem silberfädigen Netz womöglich übersehen. Beim plappernden Gespräch wäre das Vogelkonzert übertönt worden. Doch jetzt wünsche ich mir einen Gefährten zur Seite, der mir helfen würde, am Leben in der Stadt teilzunehmen. Ich fühlte mich vereinsamt. Um die trübsinnige Stimmung zu vertreiben, erinnere ich mich daran, wie schön und vielversprechend dieser Tag begonnen hat. Ich erinnere mich an den Augenblick, als ich auf der Lichtung aufwachte:
War es das Tageslicht oder das Gezwitscher eines Bluthänflings, das mich weckte? Die Sonne war noch nicht über dem Horizont erschienen. Am Himmel verkündeten rosa Wolken ihr Nahen. Ich war glücklich. Ich spürte den Atem der Erde und atmete im gleichen Rhythmus. Den köstlichen Gleichklang genießend lag ich auf dem Rücken und schaute hinauf in den Himmel. Er wurde von einem breiten weißen Wolkenband überspannt. Von Osten kamen rosa Wolken rasch angesegelt. Bald erreichten sie die Linie der ruhenden Wolkenbank. Diese thronte zwar hoch oben in erdferner Kälte, während die kleinen rosa Wolken knapp über den Baumwipfeln dahinzogen und trotzdem kamen sie nicht unter ihr vorbei. Sobald sie sich der weißen Wolkenbank näherten, wurden sie mit großer Geschwindigkeit emporgezogen und verschwanden. Zuerst erkannte ich nicht, was da geschah. Es ging viel zu schnell. Wieder befand sich eine rosa Wolke unter dem weißen Band. Gespannt schaute ich zu. Würde sie es schaffen? Da löste sie sich schon auf. Ein gewaltiger Sog riß sie auseinander, aber ich konnte mit den Augen nicht folgen, sah nur, daß die Wolkenbarriere wieder um ein Stück größer geworden war. Unvorstellbare Kräfte tobten entfesselt dort oben. Nur scheinbar sah es freundlich und harmlos aus: blauer Himmel, weiße und rosa Wolken. Weil ich genauer hingeschaut hatte, entdeckte ich den gewaltigen Luftsog. Unwillkürlich berührte ich die Erde, als wollte ich mich ihres Haltes und ihrer Festigkeit versichern. Neue rosa Geschwader näherten sich, für Sekunden verspürte ich den aberwitzigen Wunsch, sie vor der Gefahr zu warnen. Ohne Unterbrechung wurden am östlichen Horizont neue Wolken ausgespuckt und in die Schlacht geworfen. Aber die Große war stärker und zog sie alle nach oben, um sie sich einzuverleiben. Sie wuchs und wuchs und überdeckte bald den Himmel.
Dann begann ich ausgeruht meinen dritten Wandertag. Kiefern und Eichen säumten zu beiden Seiten den Weg mit dichtem Unterholz aus Weißdorn, Wacholder, Buchsbaum und Ginster. Wie ein Umhang verhüllte Efeu die Bäume bis zu ihren Kronen. Die große Wolke, die am Morgen die kleineren verschluckt hatte, verhüllte noch immer vollständig den Himmel. Erst als die Sonne höher gestiegen war, löste sich der diesige Dunst auf, aber trotzdem wurde es nicht so frühlingswarm wie gestern. Das Laufen ging jetzt besser, da die Füße kaum noch schmerzten.
Plötzlich aufsteigender Rauch über dem Wald ließ mich einen Brand befürchten. Doch nachdem ich noch drei Kilometer weitergegangen war, konnte ich erkennen, daß das staubgraue Monster einer Fabrik unten im Tal der Arga für die Luftverschmutzung verantwortlich war. Da mein Weg durch das Flußtal führte, mußte ich dicht an diesem häßlichen, stinkenden Ungetüm vorbei. Tief aufgerissene Erde und hoch aufgetürmte Abraumhalden begleiteten mich mehrere Kilometer lang. Später erfuhr ich, daß es eine Fabrikanlage für die Herstellung von Magnesium ist.
Erst in Larrasoaña gab es wieder einen erfreulicheren Anblick. Das Dorf war rundherum schön, eigentlich das schönste, durch das ich bisher gekommen war. Die Häuser waren mit geschnitzten Dachsparren und blumengeschmückten Balkonen
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